GERECHTIGKEIT – Wie wir das Richtige tun by Michael J. Sandel
Autor:Michael J. Sandel
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH
veröffentlicht: 2013-01-22T16:00:00+00:00
Rawls bringt vor, die ersten drei Theorien begründeten distributive Anteile mit rein willkürlichen Faktoren – seien dies nun der Zufall der Geburt, soziale oder wirtschaftlicher Vorteile oder natürliche Begabungen und Fähigkeiten. Allein das Unterschiedsprinzip vermeide es, die Verteilung von Einkommen und Vermögen auf diese Kontingenzen zu gründen.
Obwohl das Argument der moralischen Willkür nicht vom Argument des Urzustands abhängt, ähnelt es ihm in folgender Hinsicht: Beide halten daran fest, dass wir, wenn wir über Gerechtigkeit nachdenken, Zufälligkeiten aller Art ignorieren sollten.
Einwand 1: Anreize
Rawls’ Begründung für das Unterschiedsprinzip zieht zwei wesentliche Einwände auf sich. Erstens: Wie steht es mit Anreizen? Wenn die Begabten nur unter der Bedingung von ihren Gaben profitieren können, dass auch die am wenigsten Begünstigen einen Vorteil davon haben: Was ist, wenn sie beschließen, weniger zu arbeiten oder ihre Fähigkeiten gar nicht erst zu entwickeln? Wenn die Steuersätze hoch oder Lohnunterschiede gering sind, würden begabte Leute, die vielleicht Chirurg hätten werden können, dann nicht weniger anspruchsvolle Arbeitsbereiche vorziehen? Würde Michael Jordan dann nicht weniger intensiv an seinem Sprungwurf arbeiten oder seine Karriere früher beenden?
Darauf erwidert Rawls, das Unterschiedsprinzip lasse Einkommensunterschiede um der Anreize willen zu, vorausgesetzt, die Anreize seien notwendig, um das Los der am wenigsten Begünstigten zu verbessern. Vorstandsvorsitzenden mehr zu bezahlen oder die Besteuerung Wohlhabender zu verringern, um das Bruttoinlandsprodukt zu steigern, würde nicht genügen. Wenn die Anreize aber ein Wirtschaftswachstum erzeugen, das den Armen ein besseres Leben ermöglicht als bei einer egalitäreren Struktur, dann sind sie nach dem Unterschiedsprinzip erlaubt.
Von besonderer Bedeutung ist hier, dass es einen Unterschied macht, ob Lohndifferenzen mit der Notwendigkeit von Anreizen begründet werden oder ob man sagt, die Erfolgreichen hätten ein moralisches Anrecht auf eine höhere Bezahlung. Rawls zufolge sind ungleiche Einkommen nur insofern gerechtfertigt, als sie Anstrengungen wachrufen, die letztlich auch den Benachteiligten zugutekommen, nicht aber, weil Vorstandsvorsitzende oder Sportstars es verdienen, besser bezahlt zu werden als Fabrikarbeiter.
Einwand 2: Anstrengung
Damit kommen wir zu einem zweiten, schwerer wiegenden Einwand gegen Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit: Wie steht es mit dem persönlichen Einsatz? Rawls verwirft die meritokratische Theorie der Gerechtigkeit mit der Begründung, die Menschen seien für ihre natürlichen Gaben nicht selbst verantwortlich. Aber wie verhält es sich mit der Arbeit, die man darauf verwendet, seine Gaben zu kultivieren? Bill Gates hat lange und hart daran gearbeitet, Microsoft zu einer erfolgreichen Firma zu machen. Michael Jordan verwandte unendlich viele Stunden darauf, seine Geschicklichkeit im Basketball zu verbessern. Verdienen sie nicht die Belohnungen, die ihre Anstrengungen einbringen – ungeachtet ihrer Talente und Gaben?
Auf solche Einwände erwidert Rawls, dass auch die Fähigkeit, sich anzustrengen, das Ergebnis einer günstigen Erziehung sein könne. »Selbst die Bereitschaft zum Einsatz, zur Bemühung, die im gewöhnlichen Sinn verdienstvoll ist, hängt noch von günstigen Familienumständen und gesellschaftlichen Verhältnissen ab.«18 Wie andere Erfolgsfaktoren werde auch unsere Fähigkeit zur Selbstdisziplin durch Zufälligkeiten beeinflusst, für die wir selbst nichts könnten. Es dürfte auf der Hand liegen, »dass der Einsatz, zu dem jemand bereit ist, von seinen natürlichen Fähigkeiten und den ihm offenstehenden Möglichkeiten abhängt. Die Begabteren werden unter sonst gleichen Umständen mehr gewissenhaftes Bemühen an den Tag legen (…).
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