Götter global (B00IQL9FHE) by Friedrich Wilhelm Graf
Autor:Friedrich Wilhelm Graf [Graf, Friedrich Wilhelm]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406660245
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-02-28T05:00:00+00:00
4. Die moralische Ökonomie der lateinamerikanischen Pfingstler
Die Wahl Jorge Mario Bergoglios, der seit März 2013 als Papst Franziskus an der Spitze der römisch-katholischen Kirche steht und sich programmatisch als «Papst der Armen» vorgestellt hat, könnte endlich den Blick schärfen helfen für die spannenden Entwicklungen in Lateinamerika, die in Deutschland lange nur das Spezialthema einiger weniger Religionsexperten waren. Hier schwärmte man für die «progressiven» Tendenzen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, schwieg über die antisemitischen Begleittöne in der Kapitalismuskritik einiger ihrer Vertreter und ergriff auch deshalb für «die Armen» Partei, weil die katholischen Amtskirchen in Lateinamerika oft gemeine Sache mit den diktatorischen Militäreliten gemacht hatten. Dass die Militärs linke Priester und Bischöfe brutal ermorden ließen, macht diese Parteinahme verständlich. Doch es waren keineswegs nur die diversen Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre, die die Armen arm bleiben ließen. Einen entscheidenden Anteil daran hatte auch die katholische Kirche. Oft blieb ihre «primary option for the poor» nur leere religiöse Rede ohne prägnante Analyse der Ursachen von Armut und Not der Massen. Viele Basisgemeinden zerfielen, weil ihre Mitglieder keinerlei Erfolge sahen. Zahlreiche Katholiken aus der Unterschicht gingen in neue protestantische Kleingruppen über, die dank ganz anderer sozialmoralischer Botschaften auch wirkmächtige Strategien sozialen Aufstiegs bieten konnten.
Lateinamerika wurde von zwei katholischen Mächten, Spanien und Portugal, kolonisiert. So war der Katholizismus, der jahrhundertelang feudale Strukturen konservierte, bis ins 20. Jahrhundert hinein Staatsreligion. Religiöse Vielfalt entstand erst seit dem frühen 19. Jahrhundert, als europäische Protestanten, in den Süden Brasiliens etwa deutsche Lutheraner, einwanderten. In den Norden Brasiliens gingen hingegen Baptisten, Methodisten und Presbyterianer. Neben diese «historischen Protestantismen» traten seit 1910 neue protestantische Akteure, die zunächst aus den USA, dann auch aus Schweden kamen und den Lateinamerikanern einen ganz neuen Protestantismus, eben das Pfingstchristentum, brachten. Die Religionsgeschichte Lateinamerikas ist im 20. Jahrhundert durch die zunehmend schnelleren Missionserfolge dieser neuen Protestantismen und die zum Teil dramatische Erosion des alten weithin monopolistischen Sinnkonzerns, der katholischen Kirche geprägt. Überall auf dem Kontinent, im Süden stärker als im Norden, nimmt die Zahl der Katholiken im Verhältnis zur Geburtenrate seit vierzig Jahren ständig ab. Der Monopolist von einst ist zu einem Glaubensakteur neben anderen geworden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten 99 Prozent der Brasilianer der katholischen Kirche an. 1980 waren es 88 Prozent, 2000 dann 73,9 Prozent, beim letzten Zensus 2010 nur noch 65 Prozent. In nur dreißig Jahren hat der brasilianische Katholizismus knapp ein Viertel der Bevölkerung verloren. Die in Tausenden von kleinen Gemeinden und einigen größeren Kirchen organisierten Pfingstchristen konnten hingegen ihre Anhängerschaft seit 1980 alle zehn Jahre verdoppeln. Die Missionsdynamik der Pfingstler ist ungebrochen. So wächst die Igreija Universal do Reino Jahr für Jahr um 25 Prozent. Auch Zahlen aus anderen Gesellschaften Lateinamerikas zeugen vom neuen Pfingstwunder. In Guatemala waren im März 1990 20 Prozent der Bevölkerung Protestanten. Im September 2012 gehörten schon gut 38 Prozent protestantischen, zumeist pfingstlerischen Kirchen an. Die hohe Konversionsdynamik hängt eng mit dem für Lateinamerika so zentralen Armutsthema zusammen.
Die Pfingstler bieten eine ganz andere moralische Ökonomie an als die katholische Kirche, die patriarchalische Strukturen der Diskriminierung von Frauen ebenso konserviert wie sozialpaternalistische Entmündigung.
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