Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen by Natalka Sniadanko

Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen by Natalka Sniadanko

Autor:Natalka Sniadanko
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon
veröffentlicht: 2016-02-16T00:00:00+00:00


Zu Evas Geburtstag fuhren sie wie verabredet nach Krakau. Chrystyna bestand darauf, dass sie nicht flogen, sondern den Zug nahmen, so wie sie hergekommen war. Eva war einverstanden, sie mochte es auch, wenn die Landschaft langsam vor dem Fenster vorbeizog und einem die Möglichkeit gab, an ihre Echtheit zu glauben, die Bewegung nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit zu spüren. Das Flugzeug nimmt einem diese Möglichkeit in jeder Hinsicht, und wirklich glauben, dass sie in Venedig war, konnte Chrystyna bei ihrer letzten gemeinsamen Reise erst am Abend vor dem Rückflug. So waren auch alle dortigen Eindrücke erst in der Retrospektive glaubhaft.

Der Zug gibt einem sogar die Möglichkeit, die Wirklichkeit nicht nur zu spüren, sondern sich zugleich aus ihr auszuklinken, sich für einen ganzen Tag in die Atmosphäre eines Buches zu vertiefen und einfach nur zu lesen, was ja ansonsten kaum einmal möglich ist.

Chrystyna war vor der Reise ziemlich nervös. Eva und sie waren jetzt schon seit fast einem Jahr zusammen, aber bisher hatte Chrystyna nie die Initiative übernommen, nicht einmal in Kleinigkeiten. Das bedrückte sie zwar manchmal, aber bisher hatte sie sich damit beruhigt, dass das nur vorübergehend sei und damit zusammenhing, dass sie sich ja erst einmal in der neuen Umgebung eingewöhnen musste. Nun, da sie ihre gemeinsame Reise organisieren wollte, war es an der Zeit, etwas zu ändern. Wobei sie jetzt auch die Frage beunruhigte, wie Eva wohl auf den Rollenwechsel reagieren würde.

Anfangs besprach sie noch jedes Detail mit ihr: welche Fahrkarten sie kaufen sollte, ob sie nachts oder doch besser tagsüber fahren sollten und an welchem Tag, ob sie die Fahrkarten besser übers Internet oder am Bahnhof kaufen und über welche Seite sie das Hotel reservieren sollte, wie die Zeit vor Ort wohl am besten genutzt werden könnte und so weiter und so fort. Nach ein paar Tagen, an denen Chrystyna Eva mehrmals täglich anrief, sagte sie sanft, aber mit Nachdruck: „Tina, ich habe gerade ziemlich viel zu tun, entscheide doch einfach allein, ich bin auf jeden Fall mit allem einverstanden, ja?“

Chrystyna schämte sich, sie mochte es eigentlich gar nicht, wenn Menschen so unselbstständig waren, dass sie wegen jeder Kleinigkeit jemanden um Rat oder um Hilfe baten, und zwar nicht, weil sie sich wirklich nicht zu helfen wussten, sondern weil sie schlichtweg nicht selbstsicher genug waren.

Sie fuhren also tagsüber mit dem Berlin-Warszawa-Express und stiegen in Warschau um. Es gab zwar auch eine Direktverbindung, aber die dauerte viel länger. Sie teilten sich das Sechserabteil mit zwei Usbeken und einem ehemaligen Fähnrich aus Schytomyr, die aus Berlin, von wo sie für Kunden in der Ukraine Gebrauchtwagen holten, zurück nach Hause fuhren. Normalerweise fuhren sie nur die Hinstrecke mit dem Zug und zurück mit den Autos, die sie in Deutschland gekauft hatten, aber diesmal lief es anders, weil ihre Kunden Schengen-Visa hatten und ihre Autos selbst abholen wollten. Rustam, Karim und Stjopa brachten sie mit den Verkäufern zusammen und fuhren jetzt bis zur Grenze mit dem Zug, weil sich ihre Kunden noch kurz Europa ansehen wollten. Vor der ukrainischen Grenze in Przemyśl wollten sie sich dann wieder treffen.



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