Fliegen bis es schneit - Roman by Andreas Neeser
Autor:Andreas Neeser
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon Verlag
veröffentlicht: 2012-03-29T04:00:00+00:00
Vierzehn
An einem der weiß gedeckten Tische saß ein Seniorenpaar bei der Vorspeise. Der Mann hatte einen Zipfel der Serviette in den Hemdkragen gesteckt und großflächig über das lindengrüne Hemd ausgefaltet. Während er sich die Entenstreifen auf dem Salatbett schmecken ließ, pries seine Frau in feierlichem, etwas zu sentimentalem Ton das Schicksal im Allgemeinen und die göttliche Gnade im Besonderen. Dass es ihnen vergönnt sei, diesen Feiertag gemeinsam zu erleben, einander hier gegenüberzusitzen und so gegenüberzusitzen; selbstverständlich sei das wahrhaftig nicht. Nicht in einer Zeit, da man sich scheiden lasse, bevor man überhaupt wisse, was man aneinander habe. Nicht wahr, Albert, sagte sie, jünger und gesünder werden wir nicht mehr, aber klüger. Wir lassen uns nicht mehr alles bieten, nicht nach fünfzig Jahren. Wenn man sich einmal etwas gönnt! Wieso sagst du denn nichts?, sagte sie. Sie winkte den Kellner an den Tisch, beschwerte sich umständlich über das Fett am zu wenig dünn geschnittenen Parmaschinken und den fauligen Stich der Honigmelonenschnitze. Auf ein Festessen hätten sie sich gefreut, zum Fünfzigjährigen, nicht auf Imbissbudenkost.
Obermeier hatte die beiden nicht beachtet, war in Anbetracht der sommerlichen Hitze, die über Nacht zurückgekehrt war, zielstrebig in den hinteren Teil des Restaurants gegangen, einer Art Lounge mit massigen Sesseln und Hockern aus bordeauxrotem Leder. Er nippte an einem Glas Champagner, überflog die Front der zerlesenen Tageszeitung, die auf dem Glastisch lag. Die Tagesaktualitäten interessierten ihn so wenig wie die Illustrierte, auf deren Titelseite die Miss Molly der Welt zum ersten Mal ihr Zungenpiercing zeigte. Der Zeigefinger seiner linken Hand trommelte auf das Köfferchen, ab und zu schlug er die Beine übereinander, wandte den Kopf zum Eingang. Mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass Isabelle auftauchte, wurde er unruhiger.
Dass sie sich so viel Zeit ließ – ein typischer Engel: zu kurz gekommen, vernachlässigt, so waren sie alle, und wenn sie dann endlich zum Zug kamen, saugten sie einen aus, bis zum letzten Tropfen.
Obermeier tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn, den Hals, schob es unter das rote Polohemd, das er bis auf Brusthöhe aufgeknöpft hatte, und trocknete sich die Achselhöhlen.
Schweiß, dachte er, war einfach widerlich. Zu wenig sämig, Farbwert null, nichts als Altwasser, das stank, als wäre es durch eine dicke Schicht Sondermüll gepresst worden. Nicht einmal Hunde tropften in der Hitze so unkontrolliert vor sich hin.
Obermeier fuhr sich mit der bloßen Hand übers Gesicht. Unter dem Hemd zuckte es, Spasmen, die wanderten.
Wie sollte man gelassen bleiben, wenn die Säfte verrückt spielten. Noch bevor der Engel da war. Er musste sich jetzt zusammenreißen, keine falschen Signale senden. Engel waren empfindlich, Engel waren wie Kinder, und das Kind hatte eben erst begonnen aufzuwachen nach langem Schlaf. Es wusste nicht, wie ihm geschah, spürte ihn noch nicht, hörte nicht, was er hörte. – Die Gnade des Musikers. Man empfing Frequenzen, die nicht wahrnehmbar waren für das menschliche Ohr, man spürte selbst feinste Schwingungen. Wie anders dagegen die Engel. Bewusstlos waren sie wie Sterne am Himmel, und von trauriger Taubheit, vermochten nicht zu wollen, was sie im Innersten begehrten. Nach dem Abenteuer rufen, mit geschlossenen Augen, und dann doch zu Hause bleiben.
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