Filzengraben by Reategui Petra

Autor:Reategui, Petra [Reategui, Petra]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Historischer Krimi
ISBN: 9783863583293
Herausgeber: emons Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00

ZWANZIG

Er saß auf demselben Stein am Rhein, auf dem er vor fünf Wochen gesessen hatte. Es war sogar dieselbe Stunde, von irgendwoher wehte Sechsuhrgeläut herüber. Nur empfindlich kälter war es das erste Mal gewesen. Jetzt, Anfang Mai, brannten ihm die Sonnenstrahlen auf den Rücken. Befreit atmete Giacomo die laue Luft ein. Der Wind kräuselte die Wasseroberfläche des Flusses, Enten und Blässhühner durchfurchten lautlos die Wellen. Noch drei, vier Wochen, und sie würden zu Hause das Vieh auf die Alm treiben.

Das Vieh der Leute im Sommer auf die Alm treiben, ist seine Aufgabe. Er ist der Große. Er ist wütend auf Matteo, dass der es nicht macht. Er ist erst sechs und Matteo schon zehn. Matteo müsste für die Familie verantwortlich sein, wenn der Vater mit seinem Bauchladen auf Wanderschaft ist. Aber Matteo sabbert den lieben langen Tag und gafft vor sich hin und überlässt es Giacomo, für alle zu sorgen. Er ist auch wütend auf den Vater, der nur einmal im Jahr nach Hause kommt und dann mehr Augen für die Mutter hat als für ihn. Und er ist wütend auf die Mutter, wenn sie Angelino abends in den Schlaf singt.

Man darf nicht wütend auf die Mutter sein, sagt Nonna Zanotti und steckt ihm einen Milchweck zu. Das ist Sünde.

Du musst das verstehen, sagt Giovanna.

Er versucht zu verstehen, und dann gehen Giovanna und er nach Albogno, um beim Pfarrer zu betteln. Er schämt sich, wenn der dicke schwarz gekleidete Mann misslaunig auf ihn und die große Schwester herabschaut und ihnen unwirsch etwas Mehl für Polenta, eine halbe Wurst und ein paar dünne Münzen gibt.

Er versucht zu verstehen und holt Mehl und melkt die Ziegen und achtet darauf, dass die Mädchen die Wäsche stopfen, während die Mutter das kleine Feld hinterm Haus bestellt. Er ist der Große, auch wenn Matteo älter ist als er. Er hackt Holz für den Winter, und jeden Freitag zieht er mit den Zoccoli, den Holzpantinen von Schuhmacher Antonello auf dem Rücken, von Ort zu Ort und ist froh, wenn er ein Paar verkaufen kann. Und wenn er abends zurückkommt, läuft ihm der Kleine entgegen und umarmt ihn. Ein lustiger, pausbäckiger Angelino, der nach Milch und Beeren riecht und den die Mutter immer auf die blonden Locken küsst. Beim Almabtrieb im September hat er ihn zum ersten Mal mitgenommen nach Druogno, ins Haus der De Matheis, ein schönes Haus mit einem Kamin mitten im Zimmer. Die Signora hat ihnen Suppe gegeben und Strümpfe für den Winter. Zuerst hat der Kleine geweint, als sie wieder gehen mussten. Aber dann, als er schon nicht mehr damit gerechnet hat, springt der Kleine vor ihm aus dem Haus und hüpft, ein Liedchen trällernd, den Waldweg hinauf nach Piodabella. Am Abend sitzt er am Tisch und isst seinen Brei mit einem silbernen Löffel.

Giacomo muss ihn am nächsten Tag zurückbringen. Es ist ein Gang in die Hölle.

Unwillkürlich fasste er nach seinem Sacchettino, dem Geldbeutel, den er an einer Schnur um den Bauch gebunden hatte. Festgezurrt zwischen Körper und Hosenbund trug er ihn immer bei sich.

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