Fernsehen by Jean-Philippe Toussaint

Fernsehen by Jean-Philippe Toussaint

Autor:Jean-Philippe Toussaint [Jean-Philippe Toussaint]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt GmbH
veröffentlicht: 2011-07-28T00:00:00+00:00


Man hatte uns den Tafelspitz serviert, dünne Scheiben in Gemüsebouillon gegarten Ochsenfleisches, mit zwei Arten Soße in zwei kleineren Silberschalen, eine leicht gezuckerte Meerrettichsoße und eine Kerbelsoße, dazu Bratkartoffeln. Ich nahm zuerst von der Meerrettichsoße, John von der Kerbelsoße, dann tauschten wir die Schalen über dem Tisch aus, ich nahm die Bordeaux-Flasche und goß mir etwas Wein ein (ich geh mal davon aus, daß ich heute nicht mehr arbeiten werde). Ich stellte die Flasche zurück auf den Tisch und verkündete John, daß ich aufgehört hatte fernzusehen. John, dem der erste Bissen Tafelspitz, den er sich gerade in den Mund geschoben hatte, fast auf den Teller zurückgefallen wäre, beugte sich abrupt nach vorn und ruderte heftig mit den Fingern vorm Mund, weniger, weil er unverzüglich auf meine Enthüllung reagieren wollte, als weil er sich mit den Bratkartoffeln die Zunge verbrannt hatte. Er nahm ein Stück Brot aus dem Korb, pickte das weiche Innere heraus und tupfte damit seine Lippen, zur Kühlung. Schon seit längerem? fragte er schließlich und fuhr sich mit einem Finger ein letztes Mal über die Lippen, schaute sich dann nämlichen Finger mit vorsichtiger, mißtrauischer Neugier an (ich frage mich, was er zu finden hoffte). Seit gestern, sagte ich, seit gestern nachmittag. Auf seine Reaktion war ich ziemlich gespannt. Ohne etwas zu sagen, nachdenklich, griff John zur Weinflasche, goß erst mir (ich deutete eine kleine Geste der Ablehnung an, lässig und vage, nachdem er mein Glas nachgefüllt hatte), dann sich selber ein und stellte die Flasche zurück auf den Tisch. Er nahm wieder Messer und Gabel, schnitt sich sorgfältig ein Stück Tafelspitz ab, das er mit Meerrettichsoße bestrich, und schob es dann vorsichtig in den Mund. Ich sehe auch nicht mehr fern, sagte er mir, seit mindestens drei Monaten nicht mehr. Wann immer ich heute jemandem verkündet hatte, daß ich mit dem Fernsehen aufgehört hatte, sei es Delon heute nachmittag oder John jetzt, bekam ich zur Antwort, daß der bzw. die Betreffende auch nicht fernsehe. Oder wenig, oder nicht mehr. Letzten Endes schaute niemand fern (außer mir, selbstredend).

John jedenfalls hatte gar keinen Fernseher zu Hause. Das hinderte ihn nicht, erklärte er mir während des Essens, regelmäßig die Fernsehprogramme in den Zeitungen durchzugehen, ja sich sogar die Sendungen anzuschauen, die ihn interessierten, indem er sich für den jeweiligen Abend ein Gerät auslieh. Er hatte übrigens merken müssen, daß die Leute beim Ausleihen eines Fernsehgeräts ziemlich zögerlich waren, ihre Bücher ja, soviel man wollte, ihre Schallplatten, ihre Videokassetten, ihre Anziehsachen, warum nicht, aber nicht ihren Fernseher. Der war heilig, ihr Fernseher, und immer wenn er sich einen ausgeliehen hatte, so erklärte er mir lächelnd, hatte er die Angst der Besitzer gespürt, wenn er sich anschickte, das Gerät wegzutragen, die Kinder, nahezu in Tränen aufgelöst im Wohnzimmer unter dem tröstenden Flügel des Arms ihres Vaters, die zuschauten, wie John den Stecker des Apparats herausnahm und die verschiedenen Kabel der Antenne und des Videogeräts abmachte, folgten ihm traurig und mit gesenktem Kopf in den Flur, während John, etwas verlangsamt in seinem Schritt durch



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