Feindbild Mutterglück by Schmelcher Antje

Feindbild Mutterglück by Schmelcher Antje

Autor:Schmelcher, Antje [Schmelcher, Antje]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783280055205
Herausgeber: Orell Füssli Verlag
veröffentlicht: 2014-03-15T00:00:00+00:00


6 Early Learning: Erziehungshype und Bildungsindustrie

In Deutschland werden Eltern seit dem sogenannten »PISA-Schock« beraten, subventioniert und eingewickelt wie ein bankrottes Staatsunternehmen vor der feindlichen Übernahme. Der Feind ist die Zukunft, eigentlich ein Freund der Kinder, aber für die Eltern das Schreckgespenst ihrer eigenen Versagensängste. Denn immer mehr Eltern fürchten, nicht nur beruflich, sondern auch in der Erziehung ihrer Kinder zu versagen. Sie haben Angst, ihnen in einer globalisierten Welt wichtige Bildungsangebote nicht rechtzeitig zur Verfügung zu stellen und so ihrem Kind dauerhaft einen schlechteren Start in die Zukunft zu ermöglichen. Diese Ängste sollen durch möglichst frühe Bildung der Kinder kompensiert werden. Doch mit der künstlichen Aufwertung vermeintlicher »Bildung« für Säuglinge und Kleinkinder hat sich ein neues Prinzip in die frühkindliche Entwicklung und ihre Erziehungskonzepte eingefräst: Konkurrenz.

Der Wettkampf um die besten Startpositionen ins Leben beginnt heute schon mit dem Durchleuchten des mütterlichen Bauchs. Wenn das Kind dann da ist, muss es auch funkeln wie ein Kristall, so beschreibt es der Kinderarzt Remo H. Largo. Das Kind soll die Mühe lohnen. Es soll einen Ertrag abwerfen. Und dazu muss es optimiert werden. Denn nach dem zynischen Urteil des Pisa-Forschers und Sozialwissenschaftlers Hans Bertram brauchen wir gar nicht mehr Kinder, wenn es nur gelingt, die Quote von Akademiker-Kindern zu steigern. Die Weitergabe des Lebens an sich verspricht da wenig gesellschaftlichen Nutzen, folgt man diesem Urteil. Möglichst frühe Bildung dagegen scheint die neue Währung der angepeilten Humankapitalrendite zu sein. Das Heranwachsen der Kinder wird an Bedingungen für ihr späteres Funktionieren geknüpft, von der bilingualen Krippe bis zum Campus für Einjährige.

Durch die Angst der Eltern und den immer drängenderen Zugriff des Staates auf die Kinder werden aber die Bedürfnisse der frühkindlichen Entwicklung umgedeutet. Die Notwendigkeit von Liebe und Zuwendung, die voraussetzungslos-hingebungsvolle Pflege durch die Eltern, wird schleichend ersetzt durch den Begriff der institutionellen Bildung, also der Prägung des Kindes durch außerfamiliäre Institutionen. Auch die Zeit der normalen Kindesentwicklung bekommt nun einen neuen Drive. Während man bisher davon ausging, dass ein Kind sich in seinem familiären Umfeld langsam zu einem Charakter mit Ich-Bewusstsein heranbildet, soll die Entwicklung zur »Selbstständigkeit« nun ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt – also bei »Null« – bereits durch institutionelle Erziehungsund Bildungskonzepte beschleunigt werden.

Doch diese Beschleunigung ist in Philosophie, Bildungs– und Entwicklungsforschung durch nichts zu rechtfertigen. Im Gegenteil: »Bildung« heiße Zeit zu verlieren, Umwege zu gehen, so formulierte es der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann. Und Adorno sagte, der tiefste Defekt sei heute, dass die Menschen nicht mehr zur Erfahrung fähig seien, weil sich immer wieder eine stereotype Schicht dazwischenschiebe, der man sich widersetzen müsse. Die mittlerweile allseits praktizierte stereotype Pädagogik der Maria Montessori, Ehrenmitglied der italienischen Faschisten, die ihre Methoden dem Menschenbild des Duce angepasst hatte, hielt Adorno schlicht für verdummend. Er warnte vor dem gesellschaftlichen Zwang zur »Nicht-Individuation«, zum Mitmachen. Denn Individuen könne man nun mal nicht züchten wie Pflanzen. Immer wieder bezog Adorno sich in seinen Vorträgen über die »Erziehung zur Mündigkeit« auf Kant, den größten Aufklärer unter den deutschen Philosophen. Auch nach Kant ist der tiefere Sinn des Denkens die Erfahrung in Bezug auf das eigene Ich.



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