Feierabend by Ute-Maria Heim
Autor:Ute-Maria Heim [Heim, Ute-Maria]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-04-27T22:00:00+00:00
Zum einen Ohr rein, zum andern wieder raus. Am Morgen erwache ich am Gekreisch der Vögel. Und liege allein im Bett. Mein linker Fuß hat sich im Bettzeug verheddert. Das Kissen ist nass. Mein Inneres fühlt sich rau an, und die Armseligkeit und Erbärmlichkeit des Augenblicks wirkt zugleich folgerichtig und fremd. Ich komme mir einsam und verlassen vor und weiß, etwas muss passiert sein. Bloß was? Dann fällt es mir wieder ein. Marius ist verärgert, weil ich gelärmt habe, ohne es zu merken. In seinem Jähzorn ist er schlimmer als mein Vater, weil er zielgenauer trifft. Auch kann er sich selten entschuldigen. Das konnte der Vater auch nicht. Dabei tobt Marius in einer anderen Liga. Die Vorsätzlichkeit seiner Entgleisung lässt ihm wenigstens die Würde. Das finde ich entlastend. Ich werde viel an Wiedergutmachung leisten müssen. Sonst ist Marius weiterhin beleidigt; schließlich droht er mit dem finalen Rückzug, bis ich mir überlegen muss abzureisen. Nach einer Weile schaue ich auf den Wecker. Kurz vor sieben. Das ist früh. Dennoch muss ich nochmals weggedämmert sein, denn das Vogelkonzert ist verstummt. Die Stille zerhackt der Lärm der Kirchenglocke. Ich strecke mich und gähne. Es kommt mir vor, als hätte ich stundenlang bleiern geschlafen. Nebenbei fühle ich mich getröstet, im Traum ist mir wohl ein Engel erschienen. Ich springe auf und trete ans Fenster. Draußen scheint die Sonne.
Ich schlüpfe in meine Laufklamotten und fische im Regal neben der Tür nach den Joggingschuhen. Als die Wohnungstür mit einem Sirren ins Schloss fällt, wirkt alles mit einem Schlag lächerlich. Noch im Treppenhaus streife ich die Geschichte ab, während ein hohler Nachhall meine Schritte verfolgt. Die Haustür scheppert. Der Himmel ist beständig und blau. Die Luft draußen ist klar, und es ist kalt. Die Kastanien hätscheln winzige Blüten zwischen schlappen Blättern. Die Natur hat noch nichts Strotzendes; wir sind auf der Höhe, der Frühling hinkt hell hinterher. Gegen meine Gewohnheit laufe ich nicht ins Städtchen hinunter, sondern den Berg hinauf. Hinter mir in der Fußgängerzone werden die Marktstände aufgebaut, aber ich habe keine Lust, mich von den Händlern anquatschen zu lassen. Ich flitze durch ein zerfasertes ältliches Neubaugebiet, das durchsetzt ist von farblich kontrastreichen Funktionshütten. Die Leute, die in den 60er-Jahren gebaut haben, verlassen ihre Primelgärten und ziehen vis-à-vis in die schlüsselfertige Altenanlage. Ich renne ums Eck und in eine Senke hinunter. Dann geht es das Loch wieder hinauf. Ziemlich schnell bin ich draußen auf dem Land. Verlaufen kann man sich kaum, weil man von überallher einen Blick hat auf die Türme der Kreisstadt oben am gegenüberliegenden Berg.
Der Schotterweg führt am Bach entlang. Am Ufer blühen Schlüsselblumen. Den Wegesrand säumen Birken und Haselnussbüsche. Ich muss niesen; gegen beides bin ich allergisch, und wenn ich in mich hineinhorche, meldet sich das Asthma. Demnächst kriege ich keine Luft mehr. Vereinzelt singen Vögel. Eine frühe Hummel torkelt in die Windstille. Gräser strecken sich nach der aufscheinenden Sonne. Die Seligkeit des Laufens ist ein Wunder. Es ist vielleicht das Beste, was es gibt– besser als Sex und Schokolade und alle Segnungen der modernen Mobilität.
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