Familienlexikon by Natalia Ginzburg
Autor:Natalia Ginzburg [Ginzburg, Natalia]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Klaus Wagenbach
veröffentlicht: 2016-07-25T22:00:00+00:00
Man hatte nicht den Eindruck, daß es mit dem Faschismus bald zu Ende ginge. Im Gegenteil: es sah aus, als nähme er nie mehr ein Ende.
In Bagnole de l’Orne waren die Brüder Rosselli ermordet worden.
Turin war seit Jahren voll von deutschen Juden, die aus Deutschland geflohen waren. Auch mein Vater hatte einige von ihnen in seinem Laboratorium als Assistenten.
Sie waren staatenlos. Vielleicht würden auch wir bald staatenlos sein, gezwungen, von einem Land ins andere, von einem Polizeibüro zum andern zu gehen, ohne Arbeit, Familie und Wohnung.
Alberto fragte mich, einige Zeit, nachdem ich geheiratet hatte: Fühlst du dich ärmer oder reicher, jetzt, da du verheiratet bist?
Reicher, sagte ich.
Ich auch! Und dabei sind wir soviel ärmer!
Ich kaufte die Lebensmittel und fand alles sehr billig. Ich war erstaunt, weil ich immer gehört hatte, die Preise seien gestiegen. Manchmal war ich allerdings vor Monatsende ohne Geld, da ich bis auf ein paar Centesimi alles ausgegeben hatte.
Dann war ich zufrieden, wenn uns jemand zum Mittagessen einlud. Auch wenn es Leute waren, die ich nicht besonders mochte. Ich freute mich, etwas zu essen, das ich weder geplant noch eingekauft noch in der Pfanne gesehen hatte.
Ich hatte ein Dienstmädchen, das Martina hieß. Es war mir sehr sympathisch. Ich dachte aber:
Wer weiß, ob sie sauber putzt? Wer weiß, ob sie wirklich Staub wischt?
In meiner totalen Unerfahrenheit gelang es mir nicht festzustellen, ob meine Wohnung sauber war oder nicht.
Wenn ich Paola oder meine Mutter besuchte, sah ich, daß im Bügelzimmer Kleider aufgehängt waren, die gebürstet oder mit Benzin gereinigt werden mußten. Sogleich fragte ich mich besorgt: Wer weiß, ob Martina unsere Kleider auch manchmal bürstet und mit Benzin die Flecken entfernt? In unserer Küche gab es zwar eine Bürste und auch ein Fläschchen Benzin, das mit einem Lappen zugestopft war; aber dieses Fläschchen war immer voll, und ich sah nicht, daß Martina es je benützte.
Manchmal hätte ich Martina auch gern zu einem großen Reinemachen aufgefordert, wie ich es bei meiner Mutter gesehen hatte, wenn Natalina mit einem Turban auf dem Kopf wie eine Piratin die Möbel ins Freie schleppte und sie mit dem Teppichklopfer bearbeitete. Aber ich fand nie den rechten Augenblick, um Martina Anweisungen zu geben; ich war ihr gegenüber schüchtern, und Martina war ihrerseits schüchtern und sanft.
Wenn wir uns im Korridor begegneten, lächelten wir uns lang und herzlich zu. Aber den Vorsatz des großen Reinemachens verschob ich von einem Tag auf den andern. Ich wagte auch sonst nicht, ihr irgend etwas zu befehlen, ich, die ich früher im Haus meiner Mutter unbekümmert befohlen und jeden Augenblick Wünsche geäußert hatte. Ich erinnerte mich, wie ich in den Ferien in den Bergen mir jeden Morgen große Eimer mit heißem Wasser in mein Zimmer hatte bringen lassen, da es kein Bad im Hause gab, und ich mich deshalb in meinem Zimmer in einer Art Sitzbad wusch. Mein Vater predigte, man solle sich mit kaltem Wasser waschen; aber keiner von uns, außer meiner Mutter, wusch sich mit kaltem Wasser; im Gegenteil: wir Kinder haßten alle seit der frühesten Kindheit das kalte Wasser aus Widerspruchsgeist.
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