Fünf Meditationen über die Schönheit by Cheng François
Autor:Cheng, François [Cheng, François]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406645273
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-08-26T16:00:00+00:00
Fünfte Meditation
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das künstlerische Schaffen im Zeichen des Schönen. Der Kanon des Schönen wandelte sich je nach Epoche, das Ziel der Kunst blieb jedoch das gleiche: die Schönheit zu feiern und zu offenbaren, Schönes zu schaffen. Schon gegen Ende des 19. und dann während des gesamten 20. Jahrhunderts kamen mehrere Faktoren zusammen, um die Situation zu verändern: die Hässlichkeit der großen Städte – ein Ergebnis der rasenden Industrialisierung –, das Bewusstsein von einer «Modernität», die auf dem Gedanken vom «Tod Gottes» beruhte, der Zusammenbruch des Humanismus, den die aufeinanderfolgenden weltweiten tragischen Ereignisse hervorriefen. All diese Dinge haben die traditionelle Auffassung von Kunst durcheinandergebracht: Sie beschränkt sich nun nicht mehr darauf, ein Schönes zu preisen, das als solches anerkannt ist. In einer Art allgemeinem Expressionismus sucht das künstlerische Schaffen – ähnlich wie die Literatur, die schon früher dazu erwacht ist –, sich mit der gesamten Lebenswirklichkeit und allen Vorstellungen des Menschen zu befassen. Da es – außer auf der Ebene des Stils – nicht mehr allein auf das Schöne abzielt, schreckt es vor extremen Brüchen und Entstellungen nicht zurück.
Ungeachtet des allgemeinen Eindrucks einer Raserei in «Schall und Wahn»[34] ist doch der «goldene Faden» des Schönen nicht ganz gerissen. Um nur die bekanntesten Maler – ob sie nun «figurativ» oder «abstrakt» malen – zu nennen: Braque, Matisse, Chagall, Miró, Bonnard, Derain, Marquet, Morandi, Balthus, de Staël, Kandinsky, Delaunay, Bazaine, Hartung, Sam Francis, Rothko, Manessier, Soulages, Zao Wouki. Durch sie oder über sie hinweg ist der Bezug zu den Erfahrungen der Vergangenheit nach wie vor gerechtfertigt.
Ich möchte hier die Sichtweise eines Mannes erwähnen, der einen scharfen Sinn für das Tragische der Moderne besaß, den Dichter und Maler Max Jacob. In «L’Homme de cristal» («Der Kristallmensch») schreibt er ganz schlicht:
Auf meinem Totenantlitz wird zu lesen sein, wonach ich geforscht habe,
und alles, was aus der ganzen Natur
in mein – nach jeder Art Schönheit verlangendes – Herz dringt:
die Reisen, der Frieden, das Meer, der Wald.[35]
Und in «Derniers poèmes» («Letzte Gedichte») spricht er von seiner Sehnsucht: «Es reichte, dass ein fünfjähriges Kind in seinem hellblauen Kittel etwas in ein Album zeichnete, damit sich ein Tor zum Licht öffnete, die Burg wieder neu entstand und der ockerfarbene Hügel sich mit Blumen bedeckte.»[36]
Ein künstlerisches Schaffen, das diesen Namen verdient, schaut der gesamten Wirklichkeit ins Auge und ist es sich schuldig, zwei Ziele anzustreben: Es hat sicherlich den Anteil an Gewalt und Leiden, der zum Leben gehört, sowie alle Formen der Perversion, die dieses Leben erzeugt, zum Ausdruck zu bringen; doch es hat ebenfalls die Aufgabe, immer wieder zu offenbaren, was das lebendige Universum an virtueller Schönheit in sich birgt. Jeder Künstler sollte im Grunde die der Kunst von Dante zugewiesene Mission erfüllen: sowohl die Hölle als auch das Paradies zu erforschen. Einer der Beweise für die Existenz der virtuellen Schönheit liegt übrigens im künstlerischen Schaffen selbst. Innerhalb dieses Schaffens ist die Suche nach der Schönheit der Form und des Stils – selbst wenn diese notwendige Schönheit nie ausreicht – das Merkmal, das ein Kunstwerk von den anderen menschlichen Erzeugnissen, die alle einem Zweck dienen, unterscheidet.
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