Explorer ENTHYMESIS (German Edition) by Matthias Falke

Autor:Matthias Falke [Falke, Matthias]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-05-23T04:00:00+00:00

Unter uns lagen die Gebirgszüge des Planeten Lento, für die nicht nur auf der Erde alle Maßstäbe fehlten. Wir überflogen die Nachtseite des Planeten. Hätten wir zur Heckklappe hinausgeschaut, hätten wir im Westen eben das letzte Sonnenlicht verschwinden sehen können, eine schmale, von einem Horizont zum anderen reichende Sichel von staubigem Gelb. Jetzt hüllte Nacht uns ein. Wir flogen noch hoch genug, dass über uns die Sterne sichtbar waren. Unter uns glitten schweigend die gewaltigen Strukturen eines Bergmassivs dahin, neben dem der Himalaya sich wie ein Vorgebirge ausgenommen hätte. Man hatte es vorläufig den Großen Rücken genannt. Die höchsten Gipfel ragten bis zu 27 000 m über dem auf, was auf einem anderen Planeten Normalnull gewesen wäre, was hier aber aufgrund der fehlenden Ozeane bislang nur näherungsweise zu bestimmen gewesen war. Was sollte man als Nullniveau ansetzen? Den tiefsten Punkt der ungeheuer zerklüfteten Oberfläche? Er war fast ebenso tief eingeschnitten, wie die höchsten Gipfel über das Durchschnittsniveau aufragten. Und wenn man die Schluchten und Canyons des Planeten mit gedachtem Wasser füllte – wie hoch sollte man es steigen lassen, bis man ein »Meeresniveau« erreicht hatte, das als Grundlage für alle weiteren Höhenmessungen dienen könnte? Man hatte Lento mit Drohnen abgetastet und an Bord der MARQUIS DE LAPLACE auch schon Berechnungen durchgeführt, die seine Idealform ermittelt und den eigentlichen Planetenkörper gereinigt, von Gebirgen und Verwerfung abstrahiert, dargestellt hatten. Aufgrund der geringen Rotations-geschwindigkeit und der vergleichsweise geringen Dichte war eine Abplattung der Pole faktisch nicht festzustellen. Sie lag unterhalb der Messtoleranz, die durch den gebirgigen Charakter dieser Welt nahegelegt wurde. Lento war eine vollkommene Kugel, denn auch die höchsten Erhebungen, zu denen sich seine Lithosphäre aufgefaltet hatte, lagen unter einem Promille seines Durchmessers. Wenn man nun diesen Idealkörper über die tatsächliche Beschaffenheit seiner Kruste projizierte, kam man zu dem Ergebnis, dass man zahlreiche Senken und Krater im Geiste verfüllen musste, um ein Normalnull definieren zu können. Von diesem an gemessen, hatte der Berg, über den wir gerade hinwegflogen, also eine Höhe von 26 580 m. Vom tiefsten Punkt der Planetenoberfläche aus gerechnet, wäre er mehr als doppelt so hoch gewesen.

Ich wies Patricia an, die Geschwindigkeit über Grund zu drosseln und weiter hinunter zu gehen. Wir berührten eben die obersten Schichten der Atmosphäre, die aber sehr dünn war. Da sich die Sonnenseite extrem aufheizte, hatten wir uns entschlossen, auf der Nachtseite zu landen. Die ENTHYMESIS war zwar für die harte Strahlung des Raumes konstruiert. Die realen Temperaturen von über 300 °C, die auf der Tagseite dieses Planeten herrschten, hätten ihre Klimasysteme jedoch überfordert. Außerdem würden die außerordentlichen Ionenausbrüche, die der hiesige Sonnentag mit sich brachte, eine Kommunikation mit dem Mutterschiff praktisch unmöglich machen. Und aufgrund diverser Erfahrungen, die ich bei früheren Explorationen zu sammeln Gelegenheit hatte, wollte ich das unbedingt vermeiden.

Ich beugte mich wieder über die holographische Konsole, auf der ich gemeinsam mit Reynolds nach einem möglichen Landeplatz Ausschau hielt. Der Hauptkamm des Großen Rückens verlief ziemlich genau in Ost-West-Richtung. Ich ließ Patricia südlich einschwenken und weiter die Höhe verringern. Dem Gebirgszug war

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