Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung by Klaus-Michael Bogdal
Autor:Klaus-Michael Bogdal [Bogdal, Klaus-Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Europa erfindet die Zigeuner
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2011-11-15T23:00:00+00:00
»Ach, mein Lieber, warum grämst du dich so? Kennst du denn uns Zigeunerinnen nicht? Das ist so unsere Art, unser Brauch. Wenn sich die Sehnsucht einstellt, der alte Störenfried, wenn sie die Seele fortlockt in die Fremde, in die Ferne – wie kann man da noch bleiben? Vergiß deine Mascha nicht [. . .], ich werde dich auch nicht vergessen, dich, meinen Falken, aber unser gemeinsames Leben ist zu Ende!«57
Wie in Puschkins Poem, jedoch nicht mehr romantisch erhöht, sondern realistisch herabgestimmt, lässt sich die Freiheit nicht auf Dauer fesseln.
Mit ironischem Unterton verbindet Ljesskow im Schelmenroman Der verzauberte Pilger die Themen Zigeunermusik und Konkubinat und wirft auf diese Weise einen kritischen Blick auf das irrational erscheinende Verhältnis der russischen Gesellschaft zu ›ihren‹ Zigeunern. Die betreffende Episode beginnt in einem von Zigeunern betriebenen, folkloristisch ausgerichteten Unterhaltungsetablissement, in dem die russischen Besucher sich wie der Ich-Erzähler an deren Darbietungen und am Champagner berauschen. Sie meinen in den Liedern und Tänzen eine Seelenverwandtschaft, »etwas so Urverwandtes«58 zu verspüren. Eines der beliebten Lieder »kneift einem förmlich in die Seele«,59 wie es der Erzähler enthusiastisch ausdrückt. Dem Star des Abends, der Sängerin Gruscha, liegen die Gäste im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen: »[M]an kann sie gar nicht einmal als Frau beschreiben, es ist eine grellbunte Schlange, die auf ihrem Schwanz tänzelt und den ganzen Körper nur so biegt und windet; aus ihren schwarzen Augen versengt sie einen aber nur so mit Feuer.«60 Obwohl sie nur ein unterhaltsames sentimentales Liedchen singt, wird es wie bei Turgenjew als bewegendes emotionales Erlebnis empfunden:
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