Es kommt der Tag, da bist du frei by Frankl Viktor E
Autor:Frankl, Viktor E. [Frankl, Viktor E.]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Kösel-Verlag
veröffentlicht: 2015-09-27T16:00:00+00:00
Leben wir provisorisch?
Nein: Jeder ist aufgerufen!
29. April 1946
Heute scheint alles »provisorisch« zu sein. Wortprägungen, die so suggestiv sind, haben immer symptomatische Bedeutung: unsere ganze Existenz scheint provisorisch geworden zu sein oder zumindest in eine provisorische Form des Daseins hineinzuschlittern.
Dies bedeutet, seelenärztlich gesehen, eine Gefahr. Der Mensch, der seine Daseinsweise bloß als etwas durchaus Provisorisches erlebt, nimmt sein Leben nicht mehr ganz ernst. So ist er bedroht von einer Art des Lebens, in der er die Möglichkeiten, die sich ihm bieten, nicht verwirklicht, sondern verwirkt: er geht an ihnen vorbei. Er wartet immer auf etwas, ohne das Seinige dazuzutun, dass es komme. Er wird Fatalist. Statt aus dem Bewusstsein einer Verantwortung heraus zu leben, stellt er sich auf den Standpunkt des laissez aller der Dinge und des laissez faire der anderen. Aus einem menschlichen Subjekt wird er zu einem bloßen Objekt – zu einem Objekt der Umstände, der Verhältnisse, der momentanen geschichtlichen Lage. Aber er übersieht, dass in der Geschichte nie etwas schon getan ist, sondern alles noch zu tun ist. Er übersieht, dass und wie weit die Verhältnisse von ihm abhängen, schöpferisch gestaltbar sind; er vergisst, dass er Mitverantwortung für sie trägt.
Der Fatalismus des durchschnittlichen Menschen von heute ist zwar unberechtigt, aber nur zu verständlich. Er ist die passive Einstellung einer müde gewordenen Generation, von der zu viel verlangt, der zu viel zugemutet wurde.
Diese Generation hat zwei Weltkriege erlebt, dazwischen einige »Umbrüche«, Inflationen, Weltwirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Terror, Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeiten – zu viel für eine Generation. Was soll sie noch glauben, um aufbauen zu können! Sie glaubt an nichts mehr – sie wartet.
In der Vorkriegszeit hieß es: Jetzt etwas unternehmen? Jetzt, da es jeden Augenblick zum Krieg kommen kann? Im Krieg hieß es: Was können wir jetzt tun? Nichts, als auf das Kriegsende warten; abwarten – dann werden wir weitersehen. Und kaum war der Krieg aus, hieß es wieder: Jetzt sollen wir etwas unternehmen? Jetzt, da alles noch provisorisch ist?
Vertieft wird diese fatalistische Geisteshaltung, dieses Sich-nicht-aufraffen-Können zu einer Tat, zu einer schöpferischen Gestaltung des Schicksals, zu einem aktiven Zupacken – vertieft wird diese Haltung allerdings durch ein Gespenst, das sich furchtbar drohend am Horizont abhebt: die Atombombe! Wenn jetzt noch ein Weltkrieg käme – so denken viele –, dann wäre es das Weltende. Und steht es dann noch dafür? Und diese Menschen nehmen das Leben nicht mehr ernst. Es bemächtigt sich ihrer eine Weltuntergangsstimmung: die Stimmung des zu Ende gehenden Jahrtausends.
Als ob es an der Atombombe läge und nicht an den Menschen. Als ob es nicht vom Menschen abhinge, was aus der Atomenergie geschaffen wird. Jawohl, von ihm hängt es ab. Und wehe, wenn sich alle Menschen in den Fatalismus fallen ließen. Da das glücklicherweise kaum zu befürchten ist, wirkt es umso trauriger, umso unnötiger, wenn sich der Einzelne von der Gespensterfurcht des Provisorischen treiben lässt.
Übergangszeiten sind schwierige Zeiten, Krisenzeiten. Aber in diesen Zeiten der Krise, unter ihren Wehen, wird immer auch schon eine neue Zeit geboren. Gerade in solchen Zeiten wird jeder Einzelne mit einer unerhörten, großen und schweren,
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