Es ist genug!: Auch alte Menschen haben Rechte (B00COD72QG) by Claus Fussek & Gottlob Schober
Autor:Claus Fussek & Gottlob Schober [Fussek, Claus]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426422045
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2013-06-26T04:00:00+00:00
17. Grundrecht für die Gleichbehandlung von Demenzpatienten mit allen anderen Pflegebedürftigen
Wer hat sich das System der Minutenpflege eigentlich ausgedacht? Ein Pfleger hat zum Beispiel für die »Entsorgung von Ausscheidungen und Inkontinenzartikeln« genau zwei Minuten Zeit, und er bekommt dafür 88 Cent. Für »mundgerechtes Herrichten der Nahrung und Getränke« werden fünf Minuten Arbeit und ein Erlös von 2,20 Euro zugestanden. Ein Pflegedienst stellt fürs Kämmen 88 Cent und für die Nagelpflege 1,76 Euro in Rechnung. Dieses vollkommen praxis-und realitätsferne System müsste grundlegend verändert werden. Denn es vernachlässigt die Gruppe der Demenzpatienten sträflich. Diese können sich womöglich noch selbst das Gesicht waschen und sich kämmen, aber sie brauchen Betreuung rund um die Uhr. Und die wird derzeit von der Pflegeversicherung kaum honoriert. Wenn man Demenzpatienten zum Beispiel anleitet, dass sie noch selbst essen, dauert eine Mahlzeit manchmal eine Stunde. Dafür gibt es aber kein Geld.
Der Politik ist all das bekannt. Sie weiß auch, dass die Zahl der Demenzpatienten in den kommenden Jahren dramatisch wachsen wird. Bereits heute gibt es mehr als 1,3 Millionen Altersverwirrte in Deutschland. Die Versorgung der Demenzpatienten ist eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Auch schon heute sind viele Angehörige, aber auch Pflegeheime mit der Versorgung von altersverwirrten Menschen völlig überfordert. Der Schwiegersohn einer Demenzpatientin hat sich bei uns gemeldet. Die 95-Jährige lebt auf einer Etage eines Heimes, welches mit rund 30 Patienten bzw. zu Betreuenden belegt ist.
»Meine Frau und meine Schwägerin halten sich täglich mehrere Stunden bei ihrer Mutter auf. Essen anreichen, zu Bett bringen, aber auch Windeln wechseln werden von ihnen übernommen. (…) Aus dem Gesamtbild heraus bezeichne ich die Situation als erschreckend und unwürdig. Gerade in den letzten Monaten müssen wir feststellen, dass ein Fehlbestand an Pflegekräften zu unglaublichen Situationen führt. So passiert es, dass eine einzige Pflegekraft für 30 zu Betreuende, manche in Pflegestufen, arbeitet, und diese einzige Kraft muss auch noch die Küche übernehmen, das Essen vorbereiten und servieren! Meist sind zwei Kräfte vorhanden, die aber auch oft überlastet sind. So kommt es, dass meine Schwiegermutter, an den Rollstuhl gefesselt, irgendwo an einen Tisch geschoben steht, das unberührte Essen vor sich, weit und breit keine helfende Hand vorhanden ist und sie stundenlang alleine sitzt. Inzwischen nehmen die beiden Töchter noch Essen mit ins Heim, das meine Schwiegermutter mit Heißhunger isst. Hat sie den ganzen Tag gehungert? Zu oft haben die Töchter schon die Windel gewechselt, die bereits seit Stunden hätte gewechselt werden müssen. Man mag es sich nicht vorstellen!«
Um auch Demenzpatienten einen würdigen Lebensabend ermöglichen zu können, diskutiert die Politik seit vielen Jahren über ein Wortungetüm mit acht Silben und 27 Buchstaben. Es heißt: Pflegebedürftigkeitsbegriff. Durch eine Neudefinition will die Politik weg von der Minutenpflege und hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung pflegebedürftiger Menschen. Ganz vereinfacht heißt das: Durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff soll die Pflegekasse künftig nicht nur für körperliche Gebrechen Geld zahlen, sondern auch für die Betreuung von Demenzpatienten. Ein vom Bundesgesundheitsministerium beauftragter Beirat hatte 2009 einen Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff vorgelegt. Dieser hatte nur einen Haken: Eine bessere Betreuung von Demenzpatienten hätte laut Gutachten mehrere hundert Millionen bis zu vier Milliarden Euro mehr im Jahr gekostet.
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