Es gibt keine Toten by Anne Kuhlmeyer
Autor:Anne Kuhlmeyer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: KBV Verlag
veröffentlicht: 2013-12-31T16:00:00+00:00
44.
Der Frost versetzte Marlene einen Tiefschlag, als sie aus der Tür trat. Sie schwankte, hielt sich an der Zarge fest, würgte, stapfte unsicher die Stufen hinab, an der Mauer entlang bis zur Ecke und kotzte. Eiskalter Schweiß klebte eine Strähne an die Stirn. Wenigstens ihr Magen beruhigte sich, und sie fühlte sich für den Augenblick besser. Es musste gegen fünf sein. Marlenes Schritte knirschten sich in die Stille auf dem Gelände, nur von der Stadt her ein Summen.
Sie lebte.
Vor dem Eingang hielt ein Lieferwagen. Jetzt? Um diese Zeit? Marlene verschmolz mit der Hauswand und war plötzlich hellwach. Zwei Gestalten in Schwarz sprangen aus dem Wagen, öffneten die Hecktür, hoben einen Körper heraus, der leicht zu sein schien, und verschwanden mit ihm ins Haus. Alles ging sehr schnell. Die Männer hatten sie nicht bemerkt. Marlene kramte in ihrer Tasche nach einem Stift, um sich das Kennzeichen aufzuschreiben, fand keinen, stattdessen ihr Handy und schickte sich selbst eine SMS. Besser so. Ihrem Kopf war nicht zu trauen. Sie atmete tief ein gegen den Schwindel. Die Tür des Wagens stand noch offen, Marlene blickte hinein, sah aber nichts als Dunkelheit. Wieder einer? Wahrscheinlich. Nicht auszuschließen, dass sein Hirn das Behältnis wechseln sollte.
Sie musste nach Hause, schlafen, nüchtern werden, nachdenken. Ihr Auto ließ sie schweren Herzens stehen. Mit dieser Menge Alkohol im Blut fände sie vielleicht das Zündschloss, ganz sicher aber nicht den Weg zu ihrer Bleibe. Sie hoffte, dass sie eine Straßenbahn erwischte, die in ihre Richtung fuhr. Wenn sie das Gelände verließ, musste sie links, daran erinnerte sie sich. Soweit sie ihrer Erinnerung trauen konnte, während der Pastis durch ihr Gehirn rauschte. Zumindest wusste sie, dass sie üblicherweise eine gute Orientierung hatte. Nur momentan … Sie hatte keine Idee, in welcher Himmelsrichtung der Stadtteil lag, den sie erreichen musste. Vid, dreh die Musik mal lauter!
Dann fiel ihr ein, dass Daniel ihr einen Stadtplan gegeben hatte. Der Gehweg war unverschämt schmal. Dauernd fielen die Schneewälle über ihre Füße her. Endlich ihr Auto. Der Innenraum roch vertraut. Während sie im Handschuhfach nach dem Plan suchte, kribbelte etwas in ihrem Nacken. Fremde Augen? Sie blickte sich um. Aber da war nichts. Sie verließ das Gelände, querte die Straße und lief an verschneitem Buschwerk entlang. In dem Plattenbau, der sich etwas zurückgesetzt von der Straße hinzog, ein hunderte Meter langer Komplex, leuchtete vereinzelt Licht in den Fenstern. Nach etwa anderthalb Kilometern, weit wie der Weg zum Mond, stieß sie auf eine Kreuzung. Im Licht der Straßenbeleuchtung haspelte sie den Plan auseinander und versuchte die Straßen zu fokussieren. Der Schmerz schlich sich von hinten an, packte sie an den Schultern, fräste sich den Nacken hinauf und randalierte in ihrem Kopf. Kein Wunder. Nachdem sie Katjas weiche Wärme verlassen hatte und bevor sie gegangen war, stellte sie fest, dass sie die Pastisflasche zu drei Vierteln geleert hatten. Sie wendete sich nach links, da war eine Haltestelle, daneben eine dunkle Traube Menschen. Der Verkehr und Marlenes Kopfschmerz nahmen zu. Sie wartete mit den anderen, obwohl sie nicht wusste, welche Bahn sie nehmen musste.
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