Elizabeth Costello by Coetzee J. M

Elizabeth Costello by Coetzee J. M

Autor:Coetzee, J. M. [Coetzee, J. M.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-23T05:00:00+00:00


Lehrstück 5: Die humanistischen Wissenschaften in Afrika

I

Sie hat ihre Schwester seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen, seit der Beerdigung ihrer Mutter an jenem regnerischen Tag in Melbourne. Diese Schwester, die für sie immer noch Blanche ist, deren offizieller Name aber nun schon so lange Schwester Bridget lautet, dass sie inzwischen für sich selbst Bridget sein muss, ist einem inneren Ruf folgend nach Afrika gegangen, offenbar für immer. Ausgebildet zur Altphilologin, umgeschult zur medizinischen Missionarin, ist sie bis zur Verwaltungsleiterin eines Krankenhauses beträchtlicher Größe im ländlichen Zululand aufgestiegen. Seit Aids die Region überrollt hat, hat sie das Potential des Krankenhauses zur Jungfrau Maria auf dem Hügel, Marianhill, mehr und mehr zur Linderung der Notlage infiziert geborener Kinder genutzt. Vor zwei Jahren hat Blanche ein Buch über die Arbeit von Marianhill geschrieben: Für die Hoffnung leben. Überraschenderweise ist das Buch ein Erfolg geworden. Sie hat eine Vortragsreise durch Kanada und die Vereinigten Staaten unternommen, die Arbeit des Ordens bekannt gemacht und Geld gesammelt; Newsweek brachte eine Reportage über sie. Also ist Blanche, die eine akademische Laufbahn für ein Leben harter Arbeit im Verborgenen aufgegeben hat, plötzlich berühmt, so berühmt, dass ihr jetzt von einer Universität in ihrer Wahlheimat ein Ehrendoktor verliehen wird.

Diese akademische Würde und ihre feierliche Verleihung sind der Grund, weshalb sie, Elizabeth, Blanches jüngere Schwester, in ein Land gereist ist, das sie nicht kennt und eigentlich auch nicht kennen lernen wollte, hierher in diese hässliche Stadt (sie ist erst vor wenigen Stunden mit dem Flugzeug gekommen, hat die Stadt unter sich ausgebreitet gesehen, mit ihren weiten Flächen verwüsteter Erde, ihren riesigen sterilen Abraumhalden). Sie ist hier, und sie ist hundemüde. Stunden ihres Lebens durch den Flug über den Indischen Ozean verloren; sinnlos zu glauben, dass sie die Zeit je wiedergewinnen wird. Sie sollte ein wenig schlafen, sich aufheitern, zu ihrer guten Laune zurückfinden, ehe sie mit Blanche zusammentrifft; aber sie ist zu ruhelos, zu labil und — sie spürt es vage — zu unpässlich. Hat sie etwas im Flugzeug aufgelesen? Krank werden unter Fremden: wie schrecklich! Sie hofft inständig, dass sie sich irrt.

Man hat sie beide im selben Hotel untergebracht, Schwester Bridget Costello und Ms Elizabeth Costello. Als die Vereinbarungen getroffen wurden, hat man nachgefragt, ob sie Einzelzimmer oder eine gemeinsame Suite bevorzugen würden. Einzelzimmer, hatte sie gesagt; und sie nahm an, Blanche hatte dasselbe gesagt. Sie und Blanche hatten sich nie wirklich nahe gestanden; sie hat nicht den Wunsch, jetzt, wo sie eine gewisse Altersgrenze überschritten haben und, offen gesagt, alte Frauen sind, Blanches Nachtgebete anhören zu müssen oder zu sehen, wie die Unterwäsche beschaffen ist, die von den Schwestern des Marienordens getragen wird.

Sie packt aus, hantiert geschäftig herum, schaltet den Fernseher ein, schaltet ihn wieder aus. Mittendrin überwältigt sie irgendwie der Schlaf, sie liegt flach auf dem Rücken, mit Schuhen und allen Sachen. Das Telefon weckt sie. Blind tastet sie nach dem Hörer. Wo bin ich? denkt sie. Wer bin ich? »Elizabeth?«, sagt eine Stimme. »Bist du es?«

Sie treffen sich in der Hotelhalle. Sie hatte angenommen, dass die Kleiderordnung für den Orden gelockert worden wäre.



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