Einer lebt, einer stirbt by M.J. Arlidge
Autor:M.J. Arlidge [Arlidge, M.J.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Thriller
ISBN: 9783644564213
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2016-03-12T00:00:00+00:00
60
Starr vor Anspannung horchte Caroline angestrengt, ob sich irgendetwas bewegte. Vier Tage waren seit ihrer Befreiung vergangen, und bisher hatte sie kein Auge zugetan. Bilder von Martina spukten ihr durch den Kopf â wie sie nach Luft rang, die hervorquellenden Augen â, aber vor allem hielt die Angst sie wach. Die Euphorie des Ãberlebens war einer quälenden Panik gewichen. Warum war sie freigelassen worden? Und was für ein schreckliches Schicksal stand ihr jetzt bevor, nachdem sie zur Mörderin geworden war?
Caroline hatte sich so schnell wie möglich selbst aus dem Krankenhaus entlassen und war in ihre Wohnung zurückgekehrt. Sie hatte das Bedürfnis nach einem vertrauten und sicheren Ort. Sharon hatte sie nur angesehen und war zu ihren Eltern geflohen, obwohl Caroline sie anflehte zu bleiben. Später, bei einem Blick in den Spiegel, verstand sie Sharons Reaktion. Sie sah irre und unmenschlich aus, wie ein Zombie. Alles Leben war aus ihr herausgesogen worden â sie war bleich, wirkte gespenstisch und redete wirres Zeug.
Allein gelassen, hatten sich ihre Zweifel und Ãngste ins Unendliche vervielfacht. Nach angestrengtem Nachdenken war ihr schlieÃlich ein Typ eingefallen, der einem alles besorgen konnte, und sie machte sich auf den Weg zu ihm, wobei sie sich alle paar Sekunden panisch umschaute. Am Bankautomaten zitterten ihre Hände, aber sie bekam, was sie wollte. Fünfhundert Pfund reichten für eine Pistole und sechs Patronen. Als sie mit der Waffe in der Tasche wieder auf dem Heimweg war, verspürte sie Erleichterung. Wenn â falls â es zum Schlimmsten kam, war sie jetzt wenigstens bewaffnet.
Die Tage waren langsam, aber ohne Zwischenfall, vergangen, und ziemlich bald war sie so mürbe vom Alleinsein gewesen, dass sie wieder arbeiten ging. Ihre Freier reagierten bei ihrem Anblick schockiert, wollten wissen, wo sie gewesen war, warum sie so mager, so fahrig war. Sie tischte ihnen irgendeinen Mist auf, erzählte ein paar Lügen und versuchte, sich auf den Job zu konzentrieren. Und die ganze Zeit trank sie. Und trank. Wodka, Whisky, Bier, egal. Mit zitternden Händen kann man nur schwer jemandem einen runterholen.
Ihre Schuldgefühle waren abgeklungen, übrig blieb nur Angst. Irgendwo da drauÃen war immer noch Cyn. Cyn, die gottgleich mit ihrem Leben gespielt, sie zur Mörderin gemacht hatte. Jedes Dielenknarren, jede zuschlagende Tür lieà Caroline hochschrecken. Ein verspäteter Silvesterknaller hatte sie so in Panik versetzt, dass sie vor einem Kunden in Tränen ausgebrochen war. Die Verwirrung auf seinem Gesicht, als er geradezu vor ihr floh, hatte Caroline zu einem Entschluss gebracht, und sie war heim gerannt â es war ein Fehler gewesen, so schnell schon wieder arbeiten zu gehen.
Deswegen war sie jetzt zu Hause, hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und eine Hand nach der Waffe auf dem Tisch neben sich ausgestreckt. Irgendjemand versuchte, in die Wohnung zu gelangen. Es war fünf Uhr morgens und noch stockdunkel. War das Cyn? Die sie im Schutz der Dunkelheit holen kam? Caroline stand leise auf â nichts zu tun war furchterregender, als irgendwas zu tun. Sie öffnete die Schlafzimmertür und erwartete halb, Cyn gegenüberzustehen, aber der Flur war leer.
Sie schlich hinaus und fluchte innerlich über jede quietschende Diele.
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