Einem Tag in Paris by E Sussman

Einem Tag in Paris by E Sussman

Autor:E Sussman [Sussman, E]
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-08-21T22:00:00+00:00


Jeremy und Chantal

Will ich meine französische Privatlehrerin küssen, weil ich Streit mit meiner Frau hatte, denkt Jeremy, oder habe ich mich mit meiner Frau gestritten, weil ich auf einmal meine französische Privatlehrerin begehre?

Es ist sein letzter Tag mit Chantal, und das Einzige, woran er denken kann, ist, seinen Mund auf ihren zu drücken.

An jedem anderen Tag hat er an Konjugationen und unbekannte Substantive und umgangssprachliche Ausdrücke gedacht. Jetzt denkt er an die Stelle, die ihre offene Bluse entblößt, die gerötete Haut, die Hitze, die er spürt, wenn sein Blick in die Grübchen ihres Halses fällt.

Mitten in ihrem Streit gestern Abend, während er und Dana den Paris Plage hinuntergingen, zu spät für die letzte métro, zu betrunken für ein ungefährliches Gespräch, sagte er: »Ich brauche Ruhe. Dein Leben ist zu laut.«

Hatte er das ernst gemeint? Woher war das denn gekommen? Hatten vier Tage mit Chantal – lange, geruhsame Tage der Konversation – zu diesem Aufruhr in seinem Verstand geführt?

Mitten in grobem, betrunkenem, wütendem Sex, der Art Sex, die er und Dana nie hatten, der Art, die sie beide verletzt und keuchend zurückließ, hatte Dana gefragt: »Willst du mich verlassen?«

»Nein«, hatte er ihr versichert. »Nein. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.«

Und jetzt das: Chantal, die vor ihm am Eingang der métro-Sstation steht, mit dem Haar, das ihr aus der Spange fällt, sodass lockige Strähnchen die Konturen ihres langen Halses umrahmen. Ihr Blick von der Seite auf ihn, als wollte sie sagen: Ich kenne dich inzwischen. Ich weiß, dass du etwas im Schilde führst. Ihr Geruch. Beim Einschlafen gestern Abend stellte er sich den Geruch von Jasmin und grünem Tee vor, irgendeine berauschende Mischung, nach der er sich sehnt, als er sich jetzt zu Chantal vorbeugt, sie auf beide Wangen küsst, ohne Handschlag heute. Es ist ihr letzter Tag zusammen in Paris.

Vielleicht liegt es an Paris, dass ich mich wie ein Idiot benehme, denkt Jeremy. Er sieht sich um, und augenblicklich hat er wieder dieses unheimliche Gefühl, als würde er alles zum ersten Mal sehen. Es liegt an dem Staunen über das alles, an diesen Gegensätzen zu Los Angeles, dem neuen Licht, den alten Gebäuden, der Entdeckung, eine Stadt zu erfahren, indem man durch ihre Straßen schlendert.

Im nächsten Augenblick wird er von Schuldgefühlen übermannt, als könnte Dana seine Gedanken hören. Nein, sein Leben mit ihr ist gewiss nicht eintönig. Es liegt nicht an ihr. Es liegt an Los Angeles. Es liegt an Hollywood. Er würde sich genauso fühlen, wenn er auf einmal in die Teton-Berge versetzt worden wäre.

Aber in den Teton-Bergen würde nicht Chantal vor ihm stehen.

»Unser letzter Tag«, sagt Chantal auf Französisch. »Sind Sie bereit?«

Es gibt so vieles, was er sagen könnte. Nein, ich bin nicht bereit dafür, dass meine Französischstunden zu Ende sind. Ja, ich bin bereit für Sie. Nein, ich bin nicht bereit dafür, dass mein Leben sich ändert. Ja, ich bin bereit für Sie. Nein, ich bin nicht bereit für Lindy, meine Stieftochter, die gestern Nacht unerwartet und mit kahl rasiertem Kopf in der Wohnung aufgekreuzt ist. Ich bin nicht bereit für noch einen Abend mit dieser unerträglichen Filmcrew.



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