Eine letzte Spur by Juliet Hall

Autor:Juliet Hall [Hall, Juliet]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Lübbe Digital
veröffentlicht: 2015-10-24T16:00:00+00:00

Kapitel 22

Das Rauschen des Wassers, das aus den Schleusentoren drang, lockte Iris an die offenen Terrassentüren, die in Mariannes friedlichen Garten mit dem dahinterliegenden Fluss führten. Es war laut. »Das ist ja, als würde man an den Niagarafällen wohnen«, hatte sie bei ihrer Ankunft scherzhaft zu Marianne gesagt. Mit der Zeit war das Rauschen jedoch beinahe zu einem Teil der Stille geworden. Sam, der Gute, hatte lang und breit erklärt, dass zwei Kanäle mit Hilfe des Wehrs reguliert würden und man mit dem Wasser die städtische Mühle betreibe. Freilich war es ein bisschen komplizierter. Männer machten ja alles gern kompliziert. Stets wollten sie wissen, wie die Dinge, aber nicht unbedingt die Gefühle funktionierten. Iris hatte nur genickt, gelächelt und ihre Gedanken schweifen lassen. So fand sie es oft leichter zu ertragen.

Den Fluss hörte man immer. Marianne hatte recht, inzwischen vergaß sie ihn oft stundenlang, und wenn sie lange genug hierbliebe, würde sie das Geräusch wahrscheinlich überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Schleichen sich neue Dinge vielleicht immer auf diese Weise ein?, fragte Iris sich. Neue Erfahrungen, neue Menschen? Wurden sie einem mit der Zeit selbstverständlich? Fühlte man sich deshalb so verlassen, wenn sie nicht mehr da waren?

Sie nahm den Hörer ab. Marianne hatte sicher nichts dagegen. Iris fühlte sich bei ihr inzwischen fast wie zu Hause. Heute Nachmittag war sie allein im Lilac House, bis Mariannes Nachbarin Heather kurz nach vier Amy von der Schule abholen und herbringen würde. Dann könnten wir ein paar Törtchen backen, überlegte Iris. So etwas macht Kindern doch immer Spaß.

Langsam – diese lästige Arthritis in den Fingern! – wählte Iris die Nummer. »Sie haben sich getroffen«, sagte sie streng, als er abhob. »Und glaube mir, das wird kein gutes Ende nehmen.«

»Hallo, Iris.« Seine Stimme klang träge und leise. Und natürlich noch mürrischer als sonst.

Henry alterte eben genauso schnell wie sie, obwohl sie sich ihn nur schwer vorstellen konnte – vielleicht hatte er weißes Haar, womöglich sogar einen Bart. Seine Augen waren sicher auch blasser, seine Haut wie ihre faltig geworden und der Rücken von Alter und Rheuma gebeugt. Jetzt aber weiter im Text, konzentrier dich, Iris! … Dennoch sah sie ihn weiterhin vor sich, sein breites Lächeln, die Zahnreihen, noch vollkommen intakt.

»Schon möglich«, sagte er.

»Das tut ihr nicht gut.« Iris wusste, dass man nie aufhörte, sich um seine Kinder zu sorgen – selbst, wenn sie bereits eigene Kinder und Enkelkinder hatten. Der unsichtbare Teil der Stellenbeschreibung für eine Mutter.

»Das kann Penelope sicher selbst beurteilen«, erwiderte er.

Iris seufzte. Manche Menschen besaßen einfach keinen Weitblick. Henry hatte sich noch nie Gedanken über die Folgen seines Verhaltens gemacht. Handle jetzt, bedaure später!, so lautete seine Philosophie. Und er erwartete von den Leuten, dass sie ihn verstanden und ihm verziehen. Aber entschuldigte eine mangelnde Voraussicht die Sache? Nein. Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob er Reue verspürte oder nicht. Womöglich ist ihm alles egal, rief sie sich entschlossen ins Gedächtnis. »Manchmal«, sagte sie, »ist Penelope ausgesprochen dumm.«

»Aha.« Das klang, als verstehe er sie. Dachte er jetzt vielleicht, dass er selbst eine Dummheit begangen hatte? Wahrscheinlich nicht.

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