Eine kleine Stadt in Deutschland by Carre

Eine kleine Stadt in Deutschland by Carre

Autor:Carre
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2014-01-15T00:00:00+00:00


10

»KULTUR« BEI BRADFIELDS

»Sie sollten ihnen mehr verbieten, Siebkron«, erklärte Saab kühn; seine Zunge war schwer vom Burgunder. »Sie sind verrückt, verdammte Narren, Siebkron! Wilde!« Saab hatte mehr geredet und getrunken als sie alle und sie zu verlegenem Schweigen gezwungen. Nur seine Frau, eine kleine blonde Puppe unbekannter Herkunft, mit einem süßen, tief dekolletierten Busen, blickte weiterhin bewundernd zu ihm auf. Wie gelähmt, unfähig, sich gegen Herrn Saabs ausfallende Reden zu wehren, saßen die übrigen Gäste da und vergingen fast vor Langeweile. Hinter ihnen huschten zwei ungarische Diener umher wie Krankenschwestern um die Betten, und Turner zweifelte nicht, daß sie Auftrag hatten, Ludwig Siebkron mehr Aufmerksamkeit zu schenken als allen anderen Patienten zusammengenommen. Er hatte es wohl auch nötig. Seine hellen, hervorquellenden Augen waren erloschen bis auf den letzten Lebensschimmer. Seine weißen Hände lagen zusammengefaltet wie Servietten neben seinem Teller. Sein ganzes teilnahmsloses Betragen war das eines Menschen, der nur darauf wartet, weggeschafft zu werden.

Vier silberne Leuchter mit achteckigem Fuß, 1729 von Paul de Lamerie entworfen und – wie schon Bradfields Vater bemerkt hatte – sehr ordentlich ziseliert, verbanden Hazel Bradfield und ihren Mann, am anderen Ende des langen Tisches, wie eine Kette aus Diamanten. Turner saß in der Mitte, genau zwischen dem zweiten und dritten Leuchter. De Lisles Smokingjacke hielt ihn wie mit Eisenbändern unerbittlich umklammert. Sogar das Hemd war ihm zu eng. Der Chefportier hatte es ihm in Bad Godesberg besorgt, und er hatte mehr dafür bezahlt als je in seinem Leben für ein Hemd. Jetzt würgte es ihn, und die gestärkten Kragenspitzen bohrten sich in das Fleisch seines Halses.

»Sie kommen schon von den Dörfern herein. Zwölftausend Menschen werden sich auf dem verdammten Marktplatz versammeln. Sie wissen, was die da bauen? Sie errichten ein Schafott.« Sein Englisch hatte ihn wieder im Stich gelassen. »Was, zum Teufel, heißt Schafott?« wollte er von der ganzen Gesellschaft wissen.

Siebkron regte sich, als habe man ihm Wasser angeboten. »Scaffold«, murmelte er, und die sterbenden Augen richteten sich auf Turner, flackerten auf und erloschen wieder.

»Siebkrons Englisch ist phantastisch«, rief Saab entzückt aus. »Siebkron träumt am Tag von Palmerston und nachts von Bismarck. Jetzt am Abend schwebt er genau in der Mitte.« Siebkron hörte die Diagnose, doch sie tat ihm überhaupt nicht wohl. »Ein scaffold. Ich hoffe, der verdammte Bursche wird bald darauf aufgehängt. Siebkron, Sie behandeln ihn zu gut.« Er hob sein Glas gegen Bradfield und brachte einen langen Trinkspruch voll unpassender Komplimente aus.

»Auch das Englisch von Karl-Heinz ist phantastisch«, sagte die kleine Puppe. »Du bist zu bescheiden, Karl-Heinz. Es ist genau so gut wie das von Herrn Siebkron.« Zwischen ihren Brüsten, tief unten, erspähte Turner das Aufblitzen von etwas Weißem. Ein Taschentuch? Ein Brief? Frau Saab hatte für Siebkron nichts übrig. Sie hatte eigentlich für keinen Mann etwas übrig, der für seine Vorzüge höher gepriesen wurde als ihr Mann. Ihr Einwurf hatte den Gesprächsfaden abgeschnitten. Die Unterhaltung lag wieder darnieder wie ein abgestürzter Papierdrachen, und einen Augenblick lang vermochte nicht einmal ihr Mann, ihn wieder flottzumachen.

»Sie sagten: Verbieten Sie ihn.« Siebkron hatte eine silberne



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