Eine fast perfekte Ehefrau. Roman by Jonathan Evison

Autor:Jonathan Evison [Evison, Jonathan]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462317015
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00

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20. August 2015

(Bernard, verstorben, Tag 282)

CTO Charmichael sitzt zusammengesackt hinter seinem massiven Schreibtisch und schaut ziemlich fertig aus. Sein nichtssagendes Hemd ist zerknittert, sein schütteres Haar etwas wirr. Der Aktenstapel vor ihm ist so hoch, dass er bald umkippt.

»Es scheint, Kandidat Chance – und ich gehe hier wiederum zunächst von Ihrer Unschuld aus –, dass Sie Artikel eins missverstanden haben.«

»Sir?«

»Besonders im Hinblick auf die Konsequenzen bei Nichteinhaltung, wie sie eindeutig – ich möchte sogar behaupten, eloquent – in Klausel 1.4 dargelegt sind.«

»Jawoll, Sir! Nach unserer letzten Unterhaltung habe ich das genau nachgelesen, Sir.«

»Und?«

»Sie haben recht. Es wird nichts passieren.«

»Exakt, Kandidat Chance. Nichts. Wie in gar nichts.«

»Mit Respekt, Sir, aber das ist nicht gerade viel.«

»Ach, nein? Nun, da bin ich aber ganz anderer Ansicht, Kandidat Chance. Schauen wir uns die Sache mal genauer an. Nachdem man Ihnen fast ein Jahrhundert Zeit zuerkannt hat, um sich zu finden und zu erfinden, Kinder zu bekommen, eine Gattin und eine Geliebte zu finden, mehrere Berufe zu ergreifen, Ihrem Land zu dienen, Ihrer Gemeinde, Ihrer Familie, um zu essen, zu lieben, zu schlafen und sich zu sorgen, ähem, kurz gesagt, hatten Sie also neun Jahrzehnte, um ›da unten‹ – wie Sie es nennen – vor sich hinzustümpern und herumzumurksen. Haben Sie überhaupt die leiseste Ahnung, wie ›nichts‹ aussieht? Wie es klingt? Wie es sich anfühlt?«

»Ähm, vielleicht wie nichts, Sir?«

»Ganz genau. Rein technisch betrachtet sind ›Aussehen‹ und ›Fühlen‹ natürlich keine angemessenen Bezeichnungen. Es ist tatsächlich recht schwierig, das in den rechten Zusammenhang zu setzen. Ein paar Griechen haben es mal versucht. Aber das ist schon ein Weilchen her, und weiter als Schatten und Höhlen sind sie nicht gekommen. Sie werden mir sicher zustimmen, dass das nicht besonders weit ist. Erlauben Sie mir eine Erklärung: Nichts zu erleben bedeutet, nicht zu existieren. Nie wieder zu existieren. Punkt. Nichts zu erleben bedeutet, alle Sinne bis auf einen zu verlieren.«

»Welchen?«

»Den Sinn des Nichtseins.«

»Das ist also die Strafe.«

»Wir ziehen eine weniger pönalisierende Bezeichnung vor. Für uns ist Nichtsein eine Entscheidung. Genau wie das ewige Leben.«

»Aber, Sir, ich kann etwas bewegen. Ich kann sie trösten. Zumindest aber kann ich mich immer wieder entschuldigen. Vielleicht wird sie ja irgendwann weich.«

»Das mag ja sein, aber im Großen und Ganzen ist das völlig unwichtig. Und führen Sie sich das Risiko vor Augen, Kandidat Chance. Sie riskieren nicht einfach irgendwas – Sie riskieren alles und nichts. Verstehen Sie?«

»Jawoll, Sir! Verstanden, Sir!«

»Das will ich auch hoffen, Chance. Sie liegen mir wirklich am Herzen. Uns allen liegen Sie am Herzen. Hoffentlich tun Sie nichts Unüberlegtes. Halten Sie sich an die Regeln, mein Sohn. Ernten Sie den Erfolg. Sie haben hier eine beneidenswerte Gelegenheit für einen gelungenen Übergang erhalten. Verspielen Sie sie nicht, indem Sie der Vergangenheit nachhängen.«

»Jawoll, Sir. Ich werd’s versuchen.«

»Das will ich hoffen, Kandidat. Sonst gibt’s nichts als Strafe.«

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