Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman by Wilhelm Genazino

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman by Wilhelm Genazino

Autor:Wilhelm Genazino [Genazino, Wilhelm]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


5

Schon während der zweiten Woche beim Tagesanzeiger erschien es mir unmöglich, daß ich nach der Urlaubsvertretung wieder ausschließlich Lehrling sein sollte. Herrdegen wurde ein Mann, den ich seit Jahren zu kennen meinte. Er schrieb täglich zwei bis drei Artikel und ein bis zwei Glossen. Er schrieb praktisch den ganzen Tag, zuweilen an zwei Maschinen abwechselnd. Ich vermutete, daß auch er zu Hause an einem Roman arbeitete. Er redete nicht über das Schreiben, auch nicht über die Literatur. Vermutlich lebte er zurückgezogen in einem halbleeren Zimmer, in dem er niemanden duldete. Aber ich hatte mich getäuscht. Am Mittwoch erschien gegen 11.00 Uhr eine Frau mit Kind in der Redaktion. Sie war noch kleiner und noch magerer als er. Herrdegen sagte: Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Alles an ihr war schmal, kurz und dünn. Frau Herrdegen übergab ihrem Mann ein paar Unterlagen und setzte sich dann, mit dem Kind auf dem Schoß, auf den Besucherstuhl. Ihre Beine reichten nicht bis auf den Boden herunter. Obwohl Frau Herrdegen eine erwachsene Frau war, machten die baumelnden Beine ein Kind aus ihr. Das Kind streckte beide Arme nach einer seitlich stehenden Schreibmaschine aus. Frau Herrdegen erhob sich und rückte ihren Stuhl und das Kind näher an die Schreibmaschine heran. Das Kind patschte mit beiden Händen in die Tastatur und sprudelte ein paar halbverspuckte Worte hervor. Das Ehepaar war von diesem Bild entzückt. Sie hoben sich das Kind gegenseitig in die Arme. Aber das Kind quengelte und wollte wieder vor der Schreibmaschine sitzen. In diesen Augenblicken öffnete Fräulein Weber die Tür und sagte: Herr Weigand, Sie haben Besuch.

Eine halbe Minute später war ich in meinem Zimmer und sah, daß der Mann mit Bart und Aktentasche auf mich wartete. Er war genauso bleich und wächsern wie vorige Woche. Augenblicksweise ging mir auf, warum mir die Nachkriegszeit damals gefiel: Die Gesichter der Menschen waren voller eingestandenem Entsetzen. Es gab weit und breit niemanden, der von ihnen verlangte, daß sie fröhlich, erfolgreich, lustig, optimistisch oder sonstwie sein sollten. Aus seiner linken Anzugtasche schaute ein Löffel heraus. Vermutlich ernährte sich der Mann in öffentlichen Armenküchen, wollte aber auf seinen eigenen Löffel nicht verzichten. Er beklagte sich, das seine Eingabe noch nicht erschienen war. Weil ich keine bessere Idee hatte, redete ich von unvorhersehbaren Verhinderungen, woraufhin der Mann in gute Laune verfiel.

Sehen Sie, sagte er, jetzt sind Sie auch ein Opfer der Verhinderungen! Jetzt sehen Sie, wie das ist!

Ich nickte verlegen.

Ich kämpfe seit ungefähr zwanzig Jahren gegen die Verhinderungen, ohne jeden Erfolg, sagte er.

Tja, machte ich.

Ich habe in früheren Jahren sogar Eingaben gegen die Verhinderungen geschrieben, ich kann sie Ihnen vorbeibringen!

Auf keinen Fall, sagte ich, bitte nicht.

Klar, sagte der Mann, natürlich, die Verhinderungen lassen sich davon nicht, ähh, abhalten.

Es ist so, fing ich an, da öffnete sich die Tür, Herrdegen trat ein mit seinem Kind auf dem Arm. Augenblicklich drehte er sich um, rief seine Frau herbei, übergab ihr das Kind, ging dann auf den Mann zu und herrschte ihn an: Was habe ich Ihnen bei Ihrem vorigen Besuch gesagt?!



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