Ein letzter Dank den Leichtathleten. Biographie der Bestürzung 3 by Detlev Meyer

Autor:Detlev Meyer [Meyer, Detlev]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105607534
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-12-21T16:00:00+00:00

Dritte Sitzung. (Die Heilung.)

Ich bin gern in Bad Roda. Erstens leben dort meine guten, alten Eltern, und zweitens gibt es in dieser Perle des Süd-Harzes ebenso viele Arztpraxen wie Kaffeehäuser, was einerseits großzügige medizinische Versorgung gewährt, und andererseits Indikator für Alter und Hinfälligkeit der Bewohner und Gäste von Roda ist. Ich fühle mich dort immer blutjung und kerngesund, und je klappriger die Spaziergänger im Kurpark, desto federnder mein Schritt. Durch Bad Roda stürme ich wie der junge Schiller über die Korridore der Militär-Pflanzschule. Der Wind zerzaust mein unbändiges Haar, die Stirn ist glatt, kühn der Blick, und um den Mund spielt ein junger Zorn.

Gedichte schreibe ich dort, die der Feder eines siebzehnjährigen Wandervogels entstammen könnten; pathetische Verse, die ich in Berlin schamhaft in einem Schuhkarton verstecke, der die Aufschrift trägt: Nach meinem Tode ungeöffnet verbrennen!

Sie würden sich wundern, Frau Doktor, was dieses Schatzkästlein noch so alles birgt außer peinlicher Lyrik! Wenn Sie jetzt an weitere Masturbationsdokumente denken, liegen Sie gar nicht so verkehrt.

Suche ich in Berlin die Gesellschaft junger Menschen, so steige ich in Roda den Greisen nach, je älter, je lieber. In die Sonne geschobene Rollstuhl-Mumien belege ich mit begehrlichsten Blicken.

Ich geile mich auf an dem sich in ihnen manifestierenden Sieg der Medizin über die Natur, an der gespenstischen Kunst, den Tod auf halber Strecke zu stoppen. Zu den Klängen des Kurorchesters rasseln durchblutete, atmende Skelette, die dem Labor eines wahnsinnigen Gerontologen entlaufen scheinen.

Der Mensch, so lautet Rodas Verheißung, ist einfach nicht tot zu kriegen. Roda verspricht Unsterblichkeit, und in seinem Thermalbad planschen vergnügt die 85jährigen.

Gern bin ich in Bad Roda, diesem Quell ewigen Alters. Ich weiß nicht, wie Sie zu Ihrem Vater gestanden haben, Frau Doktor Lebens-Freud, der meine wirkt auf mich äußerst belebend. Wenn er mir, dem Spätdreißiger, die Kippen im Aschenbecher vorzählt, fühle ich mich wie ein beim Rauchen ertappter Schulbub. Unerschütterlich ist mein Vater der Überzeugung, daß ich außerstande sei, einen Büchsenöffner zu hantieren. Und ich muß Ihnen gestehen, Frau Doktor, im Hause meiner Eltern kommt mir tatsächlich jede Alltagsfertigkeit abhanden. Derart hilflos stelle ich mich, daß meine Mutter mir das Brotmesser entreißt, weil zu befürchten steht, ich schnitte nicht den Laib, sondern mich.

Die Chance, in Bad Roda überfahren zu werden, ist wesentlich geringer als in Berlin, aber Mutter unterläßt es nie, mir aus dem Fenster nachzurufen: Paß auf, wenn du über die Straße gehst!

Geld stecken mir meine guten, alten Eltern zu mit der Ermahnung, es nicht gleich wieder zu verlieren. Vater schiebt mir einen Hunderter in die Jackentasche und kneift dabei ein Auge zu. Und ich grinse ihn an, wie ein Honigkuchenpferd, dem das Taschengeld erhöht wird. Und Mutter zuliebe verliere ich auch wirklich Geld in Bad Roda, bei meinem vorletzten Besuch immerhin 20 Mark. Vater: Warum der Bengel kein Portemonnaie hat, verstehe wer will.

Mutter: Dann wäre das Portemonnaie jetzt auch weg.

Ich: Wie sagte Napoleon vor Moskau? Meine Verluste sind meine Siege.

Ich bin gern in Bad Roda, weil ich dort in der Doppelrolle eines seit Jahrzehnten erfolgreichen Stücks auftrete: Happy Family oder Alles dreht

Download

Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.