Ein falsches Wort by Pfister René

Ein falsches Wort by Pfister René

Autor:Pfister, René
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2022-07-19T13:06:03+00:00


7 DAVID SHOR ODER: WIE SICH DAS LINKE LAGER VON DER REALITÄT ABSCHOTTET

Am 28. Mai 2020 um 15.29 Uhr setzte David Shor den wohl verhängnisvollsten Tweet seines Lebens ab. Es waren Sätze, von denen man nicht unmittelbar denken sollte, dass sie eine Karriere beenden können. Sie lauteten:

»Rassenunruhen nach dem Mord an Martin Luther King Jr. reduzierten den Anteil der demokratischen Stimmen in den umliegenden Countys um zwei Prozent, was genügte, die Präsidentschaftswahl im Jahr 1968 zugunsten von Nixon kippen zu lassen. Gewaltfreie Proteste erhöhen die Zahl der Stimmen für die Demokraten – vor allem deshalb, weil sie für einen freundlichen Elitendiskurs und eine freundliche Medienberichterstattung sorgen.«107

Der eher sperrige Text war eine Zusammenfassung einer Studie des schwarzen Princeton-Dozenten Omar Wasow. In ihr weist Wasow eindrücklich nach, wie sehr den Demokraten die gewalttätigen Ausschreitungen schadeten, die nach dem Mord an Martin Luther King Jr. im April 1968 in den USA ausgebrochen waren. Die Gewalt bestimmte die Schlagzeilen und die politische Debatte im Wahljahr 1968 und gab dadurch dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon die Möglichkeit, sich als »Law and Order«-Mann zu präsentieren. Ohne die Proteste, so Wasow, hätte Nixons demokratischer Konkurrent Hubert Humphrey fünf zusätzliche Bundesstaaten gewonnen: Delaware, Illinois, Missouri, New Jersey und Ohio. Dies hätte gereicht, um den Demokraten ins Weiße Haus zu tragen. Es kam anders, wie man heute weiß.108

Für einen Mann wie Shor, der sein ganzes Berufsleben damit verbracht hatte, den Demokraten zum Sieg zu verhelfen, lag es nahe, nach dem gewaltsamen Tod George Floyds durch einen weißen Polizisten im Mai 2020 auf die Arbeit von Wasow hinzuweisen. Denn danach gab es in zahlreichen amerikanischen Innenstädten gewalttätige Demonstrationen. »Was als friedlicher Protest für George Floyd begann, hat sich zur nackten Plünderei und zu heimischem Terrorismus in unserer Region entwickelt«, erklärte Jacob Frey, der Bürgermeister von Minneapolis, der Stadt von George Floyd. Die Gewalt sprang auch auf Großstädte wie Atlanta und New York über, was wiederum Trump die Gelegenheit gab, sich – wie Nixon im Jahr 1968 – als Hüter von Recht und Ordnung zu präsentieren.

Shor setzte seinen Tweet drei Tage nach dem Tod Floyds ab, auf dem Höhepunkt der Protestwelle. Er war zu jenem Zeitpunkt erst Ende 20, aber schon ein Veteran in amerikanischen Wahlkampfschlachten. Im Jahr 2012 hatte Shor dem Demokraten Barack Obama bei seiner Wiederwahl-Kampagne geholfen. Danach heuerte er bei der linken Beratungsfirma Civis Analytics an. Das Spezialgebiet des Mathematikers ist die Tiefenanalyse von Umfrage-Rohdaten. Wenn man Shor in einem Café in New York trifft, spult er aus dem Kopf heraus alle Daten ab, die erklären, warum Obama zweimal die Präsidentschaftswahl gewonnen hat.

Doch all das zählte nicht mehr, als Aktivisten Shors Tweet als Angriff auf die »Black Lives Matter«-Bewegung missverstehen wollten. »Schwarze Wut und Trauer auf die Frage der ›schlechten Wahltaktik der Demokraten‹ zu reduzieren, ist immer Bullshit, aber in dieser Woche ist es eine besondere Grausamkeit«, twitterte Ari Trujillo-Wesler, eine schwarze Politikberaterin. Shor erklärte daraufhin geduldig, dass es ihm nur darum gegangen sei, wissenschaftliche Fakten darzulegen. Trujillo-Wesler erwiderte: »Glaubst du, ich habe das Papier nicht gelesen und



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