Ein Gefreiter gegen Hitler by Bernd Ziesemer
Autor:Bernd Ziesemer [Ziesemer, Bernd]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
veröffentlicht: 2014-09-27T04:00:00+00:00
Eine Flucht durch Deutschland
12. April 1945 bis 7. Mai 1945
Der Schwarzwald lag am 12. April 1945 unter einem stabilen Hoch. In den Wäldern um Freudenstadt war es für die Jahreszeit viel zu warm. Die damals 14-jährige Maria König aus Achern erinnerte sich später an einen Frühling »so früh und so schön, wie es seither keinen mehr gab«.1 Nur nachts konnte es für die letzten Soldaten, die Hitlers Wehrmacht hier zum Abwehrkampf gegen die heranrückenden Einheiten der 1. Französischen Armee zusammengetrieben hatte, empfindlich kalt werden.
An diesem Apriltag verlief die Front noch weit nördlich von Freudenstadt. Befehligt vom Oberkommando der 19. Armee unter dem berüchtigten Nazigeneral Erich Brandenberger, zogen die Kampfeinheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS am Vortag aus dem 55 Kilometer entfernten Baden-Baden ab und lieferten sich nun Abwehrgefechte am Eingang zum Murgtal, um eine neue Frontlinie aufzubauen. Aber schon fünf Tage später sollte Freudenstadt in Schutt und Asche liegen, niedergebrannt und geschändet, durch Massenvergewaltigungen und Plünderungen verheert wie kaum eine andere Stadt im Westen Deutschlands.
Noch hören die Volkssturmmänner, die an der Schwarzwaldhochstraße nordöstlich von Freudenstadt in kleinen Trupps Panzersperren bauen, nur das dumpfe Grollen der französischen Kanonen in der Ferne. Doch die amerikanischen Jagdbomber vom Typ Thunderbolt verstärken bereits ihre Angriffe auf die 1599 von Herzog Friedrich I. von Württemberg gebaute Stadt. Mit ihrem riesigen quadratischen Marktplatz auf dem Hochplateau am Oberlauf der Murg bietet die Kleinstadt ein so leichtes Ziel aus der Luft wie keine andere Gemeinde in der Umgebung. Das klare Wetter erleichtert die Arbeit der Piloten. Am 12. April schlagen die amerikanischen Bomben bei der Viaduktbrücke Lauterbach und der kleinen Ortschaft Besenfeld ein, ein paar Kilometer von Freudenstadt entfernt. In den Tagen zuvor waren erste Bomben auf den Stadtkern gefallen. Unruhe und düstere Vorahnungen machen sich unter den Menschen breit. Der Krieg rückt von Stunde zu Stunde näher.2
Die zerlumpten, oft bis zum Skelett abgemagerten Soldaten der Feldstrafgefangenenabteilung, die in den Wäldern bei Freudenstadt kampieren, spüren am deutlichsten, dass Unheil in der Luft liegt. Eigentlich sollen sie den Kampfeinheiten der 19. Armee folgen. Doch seit Tagen marschieren sie nur noch im Kreis herum – quer durch den Schwarzwald, über Berge und Täler, sinnlos angetrieben von den Feldwebeln ihrer Wachmannschaft. Wenn sie nicht marschieren, dann lagern die »Ausgestoßenen der großen Armee«, wie sie mein Vater später nennen wird, in maroden Scheunen oder auf Waldlichtungen im Freien. Ihre Offiziere halten sie von den Städten und größeren Dörfern fern. In den Weilern und Gehöften der Schwarzwaldtäler, durch die sie marschieren, betteln die Wehrmachtssträflinge um Brot und Kartoffelschalen, weil sie seit Tagen keine richtige Verpflegung mehr erhalten. Viele von ihnen finden vor Hunger kaum noch in den Schlaf. Kopfschüttelnd beobachten Frauen und Kinder die ausgemergelten Gestalten, die an ihnen vorbeiziehen. Sind das noch deutsche Soldaten?
Der damals zehnjährige Willi Buß aus dem etwa 60 Kilometer von Freudenstadt entfernten Ohlsbach erzählt später: »In diesen Tagen wurden auch deutsche Soldaten als Strafkompanie an die Front getrieben. Sie hatten keine Dienstgradabzeichen mehr, keine Waffen, keine Helme, teilweise waren sie ohne Stiefel oder Schuhe, manche waren barfuß oder hatten ein paar Lumpen um die Füße gewickelt.
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