Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie by Anne Stern

Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie by Anne Stern

Autor:Anne Stern [Stern, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2023-05-15T22:00:00+00:00


20.

Dresden, Freitag, 2. Juli 1841

Bertha stieß die Tür auf und prallte beim Geruch zurück, der dem düsteren Schankraum entströmte. Das Wirtshaus in der Johannisgasse am Pirnaischen Platz war nichts weiter als eine Spelunke, ein dreckiges Loch mit ein paar zerschrammten Hockern und einer Holztheke, die vor Schmutz starrte. Sie umklammerte den Weidenkorb fester. Ein paar Köpfe drehten sich bei dem kurzen Luftzug nach ihr um, und einige Augenpaare musterten sie, doch gleich darauf erlahmte das Interesse und richtete sich wieder auf die trübe Brühe, die in den Bierkrügen schwappte. Der Wirt hielt gerade eine Branntweinflasche in den Händen und goss sich selbst großzügig davon ein. Als er Bertha bemerkte, knallte er die Flasche hin und sah ihr über die verfilzten Haarschöpfe seiner Gäste – Stammkunden, vermutete Bertha – irritiert entgegen.

«Madame», knurrte er, «Sie haben sich wohl verlaufen?»

Bertha versuchte, so wenig wie möglich von der stickigen, dunstigen Luft einzuatmen und nicht in eine der zahlreichen Pfützen von unbestimmbarer Herkunft zu treten, die den Weg bis zur Theke säumten. Energisch schüttelte sie den Kopf.

«Ich suche jemanden», sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. «Mademoiselle Koch? Sie soll hier arbeiten.»

«Lene?», fragte der Wirt. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. «Von wegen arbeiten», ächzte er, «das Luder liegt dauernd auf der faulen Haut. Angeblich krank.» Er spuckte auf den Boden. Dann deutete er mit dem Daumen auf einen niedrigen Ausgang an der hinteren Wand der Schankstube. «Da lang», sagte er, «immer dem Gejammere nach.»

Bertha strafte ihn mit einem strengen Blick, wagte aber nichts zu sagen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg an zwei umgestürzten, zertrümmerten Stühlen vorbei – offenbar hatte es einen Streit gegeben, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Überreste wegzuräumen. Neben dem Hinterausgang lag eine reglose dunkle Gestalt, und Bertha hoffte, dass der Mensch dort nur seinen Rausch ausschlief und ihm nichts Schlimmeres zugestoßen war als eine zu große Menge billigen Fusels. Ängstlich trat sie über ihn hinweg und öffnete die Tür, die in den Angeln quietschte, dann stand sie mit ihrem Korb draußen auf einem Hof.

Im Sonnenschein des Hochsommertags sah sie sich blinzelnd um. Es gab einen kleinen Seiteneingang zu einem windschiefen Anbau aus rötlichen Ziegeln, der wohl einst ein Stall gewesen war. Doch hier hielt niemand mehr Tiere. Wenn es jemals ein Pferd gegeben hatte, dann war dies wohl längst zum Schlachter gekommen und in den Kochtopf gewandert.

Bertha horchte in den Hof, hörte jedoch nichts. Zaghaft ging sie über den trockenen, sandigen Boden zu dem Verschlag, unter ihren Schuhen knirschten kleine Steinchen. Sie passierte einen alten Ziehbrunnen – Eimer und Kelle waren noch da, außerdem eine Teppichklopfstange, über die jemand ein grauweißes Laken gebreitet hatte, um es in der Sonne zu trocknen.

Mit einem Mal flog die Tür des Stallgebäudes auf, und Magdalene Koch blickte in den Hof. Als sie die Garderobiere erkannte, runzelte sie die Stirn und machte Anstalten, die Tür hastig wieder zuzudrücken, doch Bertha war schneller und hielt sie mit der freien Hand auf.

«Oh, Fräulein Koch», sagte sie erschrocken und musterte die Frau im Türgeviert.



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