Du siehst ihn nicht by Reinhard Kleindl

Autor:Reinhard Kleindl [Kleindl, Reinhard]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon
veröffentlicht: 2015-12-09T16:00:00+00:00

6

Kleine Hände strichen sanft über ein kurzes, braunes Fell, spürten die Wärme eines mächtigen Körpers. Das Pferd schnaubte, ließ sich die Behandlung gefallen. Der Bärtige musste gut mit ihm umgegangen sein. Die Futterstelle mit dem Flugdach war liebevoll gebaut und gepflegt, weit besser als die nahegelegene Hütte. Das Zaumzeug sah teuer aus; die Zügel waren um einen Pflock gebunden.

Nachdem es vom Morgenlicht geweckt worden war, hatte das Geschöpf ein ungutes Gefühl im Bauch gehabt, so, als ob schmerzhafte Erinnerungen nach außen drängten, und es nicht schafften, durchzubrechen. Um sich davon abzulenken hatte es begonnen, die Hütte zu durchsuchen, und dann war das Gefühl abgeflaut. Es wusste nicht recht, wonach es suchte und nichts von dem, was es fand, war nichts so recht zufriedenstellend. Später sah es sich die nähere Umgebung der Hütte an, bis es das Pferd fand.

Es legte das Ohr an die Flanke des Tieres und lauschte dem Herzschlag. Es musste lachen. Was für ein Wesen! Diese Lebendigkeit reizte eine verborgene Lust in ihm. Es wollte sie nicht nur bewundern, sondern sich damit beschäftigen. Noch einmal streichelte es das Pferd, dann ging es zur Hütte, um das Messer zu holen.

Eine Stunde saß es weinend unter dem Flugdach. Das Erlebnis hatte es aufgewühlt. Es war schön gewesen, aber auch traurig, denn es hatte das Pferd gemocht, und nun war das Tier tot. Ihm wurde wieder klar, wie einsam es war.

In diesem Moment hörte es in der Ferne Geräusche, wie von Fahrzeugen. Es hörte auf zu weinen und ging in die Richtung, aus der die Laute kamen.

Ein Haus aus Holz. Und Menschen. Noch ein Pferd wäre ihm lieber gewesen, um das Geschehene wieder gut zu machen, oder eine Kuh. Dennoch beobachtete es die Ankommenden aus sicherer Entfernung. Sie waren schön, aber sie redeten sehr viel, fand das Geschöpf.

Es kehrte zurück zur Lichtung mit dem Flugdach. Der geschundene Leib des Pferdes leuchtete ihm blutrot entgegen. Der Anblick war schmerzhaft und es verlangte das Geschöpf, ihn zu entfernen. Es sah sich um und fand eine nicht allzu tiefe Grube mit Pferdemist darin. Nach kurzem Überlegen packte es den daneben in der Erde steckenden Spaten und begann mit schier übermenschlichem Eifer, die Grube zu vergrößern.

Als es sich müde in der Hütte ausruhte, wanderten die Gedanken zu den Menschen mit den Autos. Beim Graben hatte es überlegt, sie einfach zu ignorieren und sich von ihnen fernzuhalten. Lieber alleine bleiben oder vielleicht noch andere Tiere suchen. Doch sie gingen ihm nicht aus dem Kopf. Es wollte sie sehen.

Plötzlich war die Müdigkeit wie verflogen. Es sprang so energisch von der Matratze auf, dass es eine Dose mit Lack umwarf und sich das Zeug auf die Beine spritzte, doch es nahm sein Missgeschick gar nicht wahr und war schon bei der Tür draußen, als der Lack sich auf dem Boden verteilte.

Wie hypnotisiert lauschte das Geschöpf dem Klang ihrer Stimmen. Etwas war an der Melodie dieser fremden Worte, dem es sich nicht entziehen konnte. Sie waren unbekannt und doch vertraut. Langsam begann es, die Stimmungen und Emotionen zu lesen und fand, dass es das Gesagte verstehen konnte, wenn es sich anstrengte.

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