Drei Kilometer by Nadine Schneider

Drei Kilometer by Nadine Schneider

Autor:Nadine Schneider
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Jung und Jung Verlag
veröffentlicht: 2019-05-15T00:00:00+00:00


Die Zeit bis zur Ernte verging zu schnell. Meine Eltern quälten sich mit einem falschen Lächeln durch die Tage. So als könnte man mir die Wahrheit nicht zutrauen, schwiegen sie, oder redeten darum herum. Ich hörte sie flüstern, wenn ich oben im dunklen Flur stand und meine Ohren so sehr anstrengte, dass mir alles wehtat. Aber wenn ich die erste Stufe nahm, die unter meinem Tritt knackte, verstummten sie und rangen sich ein Lächeln ab, sobald ich in die Küche kam.

Hans war der Schlimmste von allen. Bleich und schweigsam saß er neben mir im Zug und kaute in der Mittagspause so langsam, dass ich meinte, das Essen müsse ihm aus dem Mund fallen. Wenn er redete, brachte er kaum einen Satz zu Ende. Und mit keinem Wort erwähnte er den Abend, an dem er so plötzlich aufgestanden und fortgerannt war.

Ich ging normalerweise fast nie in die Kirche. Die Pfarrer, die uns in der Schule unterrichtet hatten, waren böse alte Männer gewesen. Ich hatte ihretwegen Angst vor Gott bekommen und mich lieber in den Aberglauben meiner Großmutter geflüchtet. Die hatte, als ich ein Säugling war, eine Nadel erhitzt und mir einen roten Faden durchs Ohrläppchen gestochen, um mich vor bösen Geistern zu schützen.

Kurz vor der Kukruzernte aber ging ich andauernd in die Kirche. Ich saß in der harten Bank und starrte auf die Kerzen, bis mir bunte Lichter vor den Augen tanzten. Ich stemmte die Füße in die Kniebank und verfluchte den Moment, als wir angefangen hatten, bei diesem Versteckspiel mitzumachen. Ich hatte gedacht, wir wären die letzten ehrlichen Menschen, jedes Mal, wenn ich Geschichten gehört hatte von Leuten, die abhauten und niemandem ein Wort sagten. Von Leuten, die in das Haus der Miliz gingen, und jeder wusste, dass sie dort Geld auf den Tisch legten, obwohl sie geschworen hatten, das niemals zu tun.

Abend für Abend saß ich mindestens eine Stunde in der Kirche und hörte, wie nach und nach die alten Frauen kamen. Ich beobachtete, wie sie sich bekreuzigten und Kerzen anzündeten. Manche setzten sich wie ich in eine Bank und schlossen die Augen. Ich konnte hören, wie schwer sie atmeten, wenn sie eingeschlafen waren. Manche fingen leise an zu weinen, dann kam ich mir vor wie jemand, der ohne anzuklopfen in ein fremdes Zimmer tritt. Ich war ein Eindringling, mehr nicht.

An einem Abend kam Misch in die Kirche. Eine Weile stand er im Mittelgang, die Hände vor dem Schoß gefaltet, dann bekreuzigte er sich und zwängte sich umständlich neben mich. Unsere Knie berührten sich. In einer der ersten Reihen saß eine alte Frau, der Kopf war ihr auf die Brust gesunken.

»Ich war bei dir zu Hause«, flüsterte Misch, den Blick nach vorne gerichtet, als wären wir beim Gottesdienst. »Deine Mutter hat gesagt, dass du hier bist.«

Die Frau regte sich, und Misch setzte sich gerader hin. Er neigte den Kopf zur Seite. »Was machst du denn hier?«

Fluchen. Doch das konnte ich ihm nicht sagen. Misch war ein gläubiger Mensch, ich wollte ihn nicht beleidigen. Der Gedanke ließ mich lachen. Erschrocken griff Misch nach meiner Hand.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.