Drache und Federschlange – Europas Griff nach Amerika und China 151920 by Serge Gruzinski

Autor:Serge Gruzinski [Gruzinski, Serge]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Entdeckungsreisen; europäische Expansion; Eroberer; Konquistadoren; Globalgeschichte; Azteken; Ming; Gewürze; Eldorado; Renaissance; Moctezuma; Hernán Cortés; Tomé Pires; Zhengde; Altes China
ISBN: 978-3-593-42303-6
Herausgeber: Campus Verlag
veröffentlicht: 2014-10-14T00:00:00+00:00

Der Blick des Eroberers

Die chinesischen Städte werden vor allem unter wirtschaftlichen und militärischen Gesichtspunkten betrachtet. Dies gilt für die Städte der Provinz Guangdong und vor allem für Kanton, dem einzigen Hafen, in dem Ausländer Handel treiben durften und der dem Außenhandel offenstand. Die europäischen Besucher nehmen die Topographie und die geographische Lage der Stadt so genau auf, weil sie es auf ihre baldige Eroberung abgesehen haben.

Ähnlich wie Cortés blicken die Portugiesen mit dem Auge des Spions und Eroberers auf das Land und achten auf alle militärischen Aspekte. Die chinesischen Städte sind von Mauern umgeben, in die monumentale Tore eingefügt sind, aber sie besitzen keine Festungen. Die Portugiesen verschaffen sich Zugang zu den Wehranlagen und vermessen die Mauern genau. Sie zählen auch die Türme und kommen auf neunzig, »die als Bastionen dienen«. Sie schätzen die Truppenstärke der Garnison: »An die dreitausend Mann bewachten unter dem Befehl ihrer Hauptleute die Tore der Stadt.«32 Wie sollte die Stadt nach der Eroberung gehalten werden? Die Europäer entdeckten schon bald einen leicht erhöhten befestigten Platz vor der Nordmauer, auf dem man eine Wehranlage errichten konnte. Von dort aus würde man die ganze Stadt leicht kontrollieren können.33 Die Schiffsanlege der Mandarine im Zentrum von Kanton wäre der geeignete Ort, um eine zweite Festungsanlage zu errichten. Damit könnte man die ganze Stadt in die Zange nehmen. Man kann sich vorstellen, dass Cortés und seine Leute ähnliche Gedanken hegten, wenn sie in Mexiko-Tenochtitlan spazieren gingen.

Am anderen Ufer des Pazifiks haben die Konquistadoren den gleichen taxierenden Blick für die aztekischen Städte, ganz gleich, ob sie sie besuchen oder angreifen. Die Verteidigungslinien, die Höhe und Länge der Mauern, die Widerstandsfähigkeit der verwendeten Baumaterialien, die strategischen Punkte – alles wird genauso gründlich untersucht wie die Stärke der Truppe und die Wehrkraft. Alles, was den Vorstoß der Europäer erleichtern oder hindern könnte, muss berücksichtigt werden. Sie sezieren die Stadt, die sich vor ihren Augen ausdehnt, mit Gründlichkeit, denn es geht bei einem Angriff um ihr eigenes Schicksal und das der ganzen Expedition. Die Portugiesen denken genauso und schicken strategische Informationen an ihre Landsleute in Malakka in der Hoffnung, dass diese möglichst rasch kommen und sie aus dem Kerker befreien werden.

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