Dr. Watson und der Fall Sherlock Holmes. Ein Bericht von Dr. John H. Watson. by Jörg Kastner

Autor:Jörg Kastner [Kastner, Jörg]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kriminalroman
Herausgeber: hockebooks gmbh
veröffentlicht: 2015-08-29T16:00:00+00:00

9. Kapitel – Ein Dinner im Diogenes Klub

Der Diogenes Klub lag in der Pall Mall, Mycroft Holmes’ Wohnung genau gegenüber und nicht weit weg von Whitehall. Als ich Mycroft kennenlernte, hatte ich das für einen bloßen Zufall gehalten. Jetzt, da ich seine wahre Position kannte, wusste ich, dass es für ihn sehr wichtig war, schnell am richtigen Ort zu sein. Seine Arbeitsplätze waren zum einen der Regierungssitz in Whitehall und zum anderen der Diogenes Klub, hinter dessen übermäßig biederer Fassade sich das Hauptquartier von Mycrofts geheimem Nachrichtendienst verbarg. Offiziell galt der ältere Holmes als eines der Gründungsmitglieder des Klubs, in Wahrheit war diese Institution ganz allein auf seine Veranlassung hin ins Leben gerufen worden.

Als wir die gläsernen Flügeltüren des Klubhauses durchschritten hatten, wurden wir von dem älteren Portier, dem wir gut bekannt waren, ebenso freundlich begrüßt wie von dem Pagen, dem wir Mäntel, Hüte und Stöcke anvertrauten. Dieser führte uns anschließend in einen großen, luxuriösen Saal, in dem einige Herren in Klubsesseln saßen und die Spätausgaben der Tageszeitungen studierten, ohne voneinander oder gar von uns die geringste Notiz zu nehmen. Es gehörte zu den unverbrüchlichen Grundsätzen des Klubs, dass in seinen Räumlichkeiten nicht gesprochen werden durfte. Eine Ausnahme bildete dabei der sogenannte Besucherraum. Trotz des scheinbaren Desinteresses der Anwesenden war ich mir sicher, dass sie uns genau beobachteten. Eine verdächtige Bewegung hätte wahrscheinlich veranlasst, dass sich eine Reihe von Revolvermündungen auf uns richtete.

Mycroft erhob sich aus einem wuchtigen Sessel und legte die Ausgabe der Times, in der er gelesen hatte, auf einen kleinen Mahagonitisch. Er winkte uns, ihm zu folgen, und wir gingen über den schweren, jedes Geräusch dämpfenden Teppich zu der Tür, die den Besucherraum vom Lesesaal trennte. Als sich die dicke, schalldichte Tür hinter uns schloss, atmete ich erleichtert auf. Auch ich bin ein Mensch, der Zeiten der Ruhe und Ungestörtheit braucht und zuweilen über alles schätzt, aber im Diogenes Klub übertrieb man es damit für meinen Geschmack entschieden. Die Atmosphäre hier erinnerte mich an einen Friedhof mit gemütlichen Sesseln anstelle von Gräbern.

„Nehmt Platz“, forderte der barocke Mycroft uns auf. „Vor dem Essen möchte ich gern erfahren, welche Ergebnisse eure Untersuchungen bislang gezeitigt haben.“

„Keine besonders erfreulichen, fürchte ich“, erwiderte sein Bruder und berichtete von Persano und dem merkwürdigen Wurm. Anschließend erzählte ich von meinem gestrigen Zusammentreffen mit dem Brasilianer.

Mycroft stellte ein paar Zwischenfragen, und seine Miene verfinsterte sich während des Zuhörens zusehends. Das gewaltige Doppelkinn auf die ineinander verschränkten Hände gestützt, sah er aus wie die lebendig gewordene Statue eines Unheil bringenden Götzen.

„Was“, fragte er schließlich, „wusste Señor Persano, dass er dich unbedingt sprechen wollte, Sherlock? Hat er keinerlei Andeutung gemacht?“

„Er gab vor, die Todesursache von Lord Boasley, Sir Julius Simon, Smith und Crosby zu kennen. Mehr sagte er nicht. Oder, Watson?“

„Nein, mehr nicht“, bestätigte ich.

„Die kennen wir jetzt auch“, konstatierte Mycroft angesichts der grausigen Begebenheit im Cosmopolitan mit der erschreckenden Gelassenheit, die der Familie Holmes zu eigen war. „Aber was wusste Persano noch? Und woher bezog er sein Wissen?“

„Wenn sich sein Zustand nicht bald bessert“, sagte Holmes, „was laut Dr.

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