Dolfi by carls
Autor:carls
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Die Tage vergingen, und nichts passierte. Der Frühling war traumhaft. Trotz aller klimatischen Veränderungen kann er in der Gegend um Paris auch heute noch sehr mild sein. Die Frühlingsluft streicht zärtlich und fast unmerklich über Menschen und Dinge. Eine leichte Brise raschelt in den Kirschbäumen. Hinter den Zäunen reifen die Johannisbeeren ohne Hast in den sanften Strahlen der Sonne. Schwärme von Spatzen besetzen kleine Gehölze vor den Augen interessierter Katzen. Abseits der mittlerweile grässlichen Stadtzentren umgibt ein zuweilen beinahe heiliger Friede die Einfamilienhäuschen an den ruhigen Straßen. Es ist, als würde die Zeit innehalten und auch den Lebenden eine Atempause zugestehen.
Bassompierre jedenfalls gewährte sie eine. Der Pensionär erwachte aus dem Koma. Die Ärzte zeigten sich nicht besonders optimistisch, aber der Patient klammerte sich mit beiden Händen fest an die Hoffnungen, die sie ihm aus Prinzip machten. Ich rief jeden Tag an. Die Krankenschwester am anderen Ende der Leitung war nicht sehr zuversichtlich und warnte mich vielmehr, dass es dauern könne. Ich hatte nichts dagegen. Ich hatte mich problemlos an Marilyns nächtliche Besuche gewöhnt. Jede Nacht, oder zumindest fast jede, stieg sie in mein Bett wie eine Ertrinkende in ein Rettungsboot. Nach dem ersten Morgen, an dem Bruno uns zusammen im Bett erwischt hatte, entschied ich, dass Marilyn, falls sie denn wiederkäme, den Rest der Nacht in der Wäschekammer verbringen sollte. Das war zwar nicht sehr angenehm, aber sie hielt sich daran. Sie stimmte mir in allem zu, hierin wie in allem anderen. Ihre Ausgeglichenheit, ihre vogelleichte Fröhlichkeit konnten sich in große Traurigkeit verwandeln, wenn sie das Gefühl bekam, mich enttäuscht zu haben. Meine unbestimmten Ängste hingegen schienen unbegründet. Marilyn hatte nichts von einer Femme fatale. Sie war eher wie ein Kind, fast ohne Launen. In Sachen Alkohol hatte sie die Wahrheit gesagt: Nachdem ich sie nach meiner Rückkehr aus Paris ein- oder zweimal beschwipst vorgefunden hatte, sperrte ich die Flaschen weg, und es passierte nicht wieder.
Auch das Zusammenleben mit Dolfi stellte kein Problem mehr dar. Obwohl er, vermutlich aufgrund einer weniger ausbalancierten Grundeinstellung, einfacher und mürrischer gestrickt war als sie, konnte man mit A.H.6 gut auskommen. Natürlich musste man darauf achten, sich ausreichend mit ihm zu beschäftigen, sonst verfiel er in eine düstere Verträumtheit, von der ich mir lieber nicht vorstellen wollte, wohin sie führen mochte. Ich ließ auch keinen Tag vergehen, ohne ihm eine handwerkliche Aufgabe zu stellen, auch wenn ich mir dabei manchmal wie ein Sklaventreiber vorkam. Ich hielt wie gewöhnlich meine Vorlesungen an der Sorbonne. Danach erwartete mich zu Hause ein alles in allem sehr harmonisches Familienleben. Bruno »verehrte« Dolfi. Anfangs hatte ich mir deswegen Sorgen gemacht, aber der Klon war für den Jungen einfach wie ein unendlich geduldiger Onkel. Bruno versuchte nie wieder, sich vor den Hausaufgaben zu drücken, und erledigte sie gleich nach dem Mittagessen. Er wusste, dass er dann bis zum Abendessen mit Dolfi am Computer spielen durfte. Ich hatte mich damit abgefunden. Bruno spielte mit dem bärtchenlosen Führer Krieg … Weshalb auch nicht? Als ich Dolfi fragte, ob der Kleine ihm nicht auf die Nerven gehe, wenn er ihn stundenlang vor dem Bildschirm festhalte, verneinte er.
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