Doktor Faustus by Mann Thomas
Autor:Mann, Thomas [Mann, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-400304-7
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2012-01-04T23:00:00+00:00
XXVII
Fagottist Griepenkerl hatte mit der Abschrift der Partitur von »Love's Labour Lost« sehr Anerkennenswertes geleistet. Ziemlich die ersten Worte, die Adrian beim Wiedersehen zu mir sprach, galten der fast vollkommenen Fehlerlosigkeit der Kopie und seiner Freude daran. Auch zeigte er mir einen Brief, den der Mann ihm mitten aus der peniblen Arbeit heraus geschrieben, und worin intelligenter Weise eine Art von besorgtem Enthusiasmus für das Objekt seiner Mühewaltung zum Ausdruck kam. Er könne nicht sagen, meldete er dem Autor, wie das Werk ihn durch seine Kühnheit, die Neuheit seiner Ideen in Atem halte. Nicht genug könne er die Feingliedrigkeit der Faktur, die rhythmische Versatilität bewundern, die Instrumentationstechnik, durch welche ein oft kompliziertes Stimmengewebe vollkommen klar gehalten sei, vor allem die kompositorische Phantasie, die sich in der Abwandlung eines Gegebenen in vielfachen Variationen bekunde: zum Beispiel die Verwendung der schönen und dabei halb komischen Musik, die der Figur der Rosaline zugehöre, oder vielmehr Birons desperates Gefühl für sie ausdrücke, in dem Mittelstück der dreiteiligen Bourrée im Schlußakt, dieser witzigen Erneuerung der alt-französischen Tanzform, sei überaus geistvoll und wendig in einem höchsten Sinn zu nennen. Er fügte hinzu: diese Bourrée sei nicht wenig charakteristisch für das verspielt-archaische Element gesellschaftlicher Gebundenheit, das so reizvoll, aber {382}auch herausfordernd mit den »modernen«, den freien und überfreien, rebellischen, auch die tonale Bindung verschmähenden Partien des Werks kontrastiere; und da müsse er nun befürchten, daß diese Gegenden der Partitur in all ihrer Unvertrautheit und frondierenden Ketzerei der Rezeption fast zugänglicher sein würden, als die frommen und strengen. Hier komme es oft zu einer erstarrenden, mehr denkerischen als künstlerischen Spekulation in Noten, einem musikalisch kaum noch wirksamen Töne-Mosaik, das eher zum Lesen als zum Hören bestimmt scheine – etc.
Wir lachten.
»Wenn ich vom Hören höre!« sagte Adrian. »Nach meiner Meinung genügt es völlig, wenn etwas einmal gehört worden ist, nämlich, als der Komponist es erdachte.«
Nach einer Weile setzte er hinzu:
»Als ob die Leute je hörten, was da gehört worden ist. Komponieren heißt: einen Engelschor dem Zapfenstößer-Orchester zur Exekution auftragen. Übrigens halte ich die Chöre der Engel für äußerst spekulativ.«
Meinerseits gab ich Griepenkerln unrecht in seiner scharfen Unterscheidung zwischen den »archaischen« und den »modernen« Elementen des Werkes. Das gehe ineinander über und durchdringe einander, sagte ich, und er ließ es gelten, zeigte aber wenig Neigung, das Fertiggestellte zu erörtern, sondern schien es als abgetan und nicht weiter interessant hinter sich liegen zu lassen. Erwägungen, was etwa damit anzufangen, wohin es zu schicken, wem es vorzulegen sei, überließ er mir. Daß Wendell Kretzschmar die Partitur zu lesen bekomme, daran war ihm gelegen. Er sandte sie ihm nach Lübeck, wo der Stotterer noch amtierte, und dieser brachte die Oper dort tatsächlich ein Jahr später, schon nach Kriegsausbruch, in einer deutschen Bearbeitung, an der ich nicht unbeteiligt war, zur Aufführung, – mit dem Erfolg, daß während der Vorstellung {383}zwei Drittel des Publikums das Theater verließen, – ganz so, wie es sechs Jahre zuvor in München bei der Première von Debussys »Pelléas und Mélisande« sich ereignet haben soll. Es kam nur zu zwei Wiederholungen, und das Werk sollte vorläufig nicht über die Hansestadt an der Trave hinausdringen.
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