Diesmal bleiben wir bis Silvester! by Dietmar Bittrich (Hg.)

Diesmal bleiben wir bis Silvester! by Dietmar Bittrich (Hg.)

Autor:Dietmar Bittrich (Hg.) [Bittrich, Dietmar (Hg.)]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644558915
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-10-31T16:00:00+00:00


Regula Venske

Kleine Wunden

Man schreibt Bücher, um sie unter den Weihnachtsbaum zu legen. Nicht als Geschenk, sondern um ihn zu stabilisieren. So viel habe ich im Laufe vieler Weihnachten gelernt.

Als ich ein kleines Mädchen war, leuchtete einmal der Weihnachtsstern extra für mich. Mein Schulweg in Münster führte mich jeden Morgen in einen schmalen Pfad. Dunkel erstreckte er sich vor mir, hundert oder zweihundert Schritte lang, auf beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt. Am Ende mündete dieser Pfad in die Promenade, den grünen Ring, der auf den Resten der alten Befestigungswälle die Altstadt umgibt. Wenn ich am Ende der Finkenstraße angelangt war und in diesen Pfad bog, dachte ich jeden Morgen: «Ich gehe meinen geraden Weg.»

Es war das Mantra jener Jahre. Und obwohl ich inzwischen ahne, dass die Umwege das eigentliche Leben ausmachen, denke ich gern an das frohgemute Mädchen, das diesen Satz vor sich hin sprach, zurück. Und dann, eines Morgens Anfang Dezember, ging der Weihnachtsstern auf! Hell stand er am Dezemberhimmel. Ich freute mich, ich staunte, ich fühlte mich wunderbar im Leben zu Hause. Ich ging geradewegs auf den Stern zu, ich folgte seinem Schein, ich kam in der Schule an und hätte am liebsten aller Welt davon berichtet. Doch aus irgendeinem Grund behielt ich mein Geheimnis für mich.

Am nächsten Morgen war er wieder da, auch am übernächsten. Es hat ein paar Tage gedauert, bis die Enttäuschung folgte. Es war das Licht eines Krans. Hell und nüchtern spendete es den Arbeitern einer Baustelle Licht, warnte Flugzeuge und Engel vor Kollisionen. Und dennoch, die Freude, das Staunen blieben. Und der Glaube an ein Weihnachtswunder. Vielleicht war mir der Wunderglauben in die Wiege gelegt – oder noch früher eingeprägt worden.

In dem Herbst, als meine Mutter erfahren hatte, dass sie mit mir schwanger war, war ihr Vater an Herzversagen gestorben. Während der gesamten Zeit der Schwangerschaft kämpfte sie gegen den Kummer, um kein depressives Baby zu kriegen. Am Heiligen Abend kam ihre Mutter aus Hannover angereist, eine dicke trauernde Witwe. Um ihr zu entgehen, so hat man mir erzählt, stahl sich mein damals schon sechzehnjähriger Bruder regelmäßig aus dem Weihnachtszimmer und kehrte kurz darauf heiterer zurück. Nach einer Weile folgte ihm unser Vater, um zu sehen, wo der Ursprung der Heiterkeit lag. Mein Bruder hatte in seinem Kleiderschrank eine Flasche Schnaps deponiert. Mein Vater ließ sich die Verschwiegenheit bezahlen. Während im Wohnzimmer die trauernde Oma thronte und meine Schwester, so stelle ich mir vor, Blockflöte spielte, labten sich die beiden: «Prost, Väterchen!» – «Hosianna, lass dir die Laune nicht verderben!»

Auf dem Umweg über meine Mutter stärkte ich mich ähnlich. Denn ihre Weihnachtsspezialität, die Haferflocken-Leckerli, veredelte sie mit einem Schuss Rumverschnitt. So wurde ich gerüstet fürs Leben und für künftige Feste. Meine Sehnsucht aber galt dem Umtrunk mit Vater und Bruder im Nebenraum. «Buon natale!» – «Buon prenatale!» Herzlichen Dank, ihr habt mein pränatales Weihnachtstrauma verhindert. – «Schummschei, schummschei, ein Prosit dem lieben Kinde!»

Prosit. Spätere Traumata waren unvermeidlich. Mit dreißig wurde ich zu einem Weihnachten nach New York eingeladen. Zwischen den Jahren fand dort die Konferenz der Modern Language Association statt.



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