Die weiteren Aussichten by Seethaler Robert

Autor:Seethaler, Robert [Seethaler, Robert]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-08-14T22:00:00+00:00

DIE WUT EINES LEBENS

Auf der Straße ist es kaum kühler als im Zimmer. Aber ein leichter Wind geht. Hildes Nachthemd flattert ein bisschen. Unten zieht es hinein. Oben auch. Das ist schön. Hilde hebt die Arme. Und das Kinn. Schließt die Augen. Ganz gestreckt steht sie so eine Weile mitten auf der Landstraße und atmet die Nacht ein. Dann öffnet sie die Augen wieder, lässt Kinn und Arme sinken und geht weiter. Der Asphalt unter Hildes Fußsohlen ist rau und warm. Die kleinen spitzen Steinchen machen nichts. Links und rechts rauschen leise die Felder, kniehoch stehen die Halme. Der Himmel hängt tief. Keine Sterne, kein Mond. Irgendwo dort vorne verliert sich die Straße in der Dunkelheit. Dort will Hilde hin. Und noch weiter will sie. Noch viel weiter. Durch die Dunkelheit hindurch will sie. Und auch dann will Hilde nicht stehen bleiben. Noch lange nicht.

Und so läuft die weiße runde Hilde barfuß und im leicht flatternden Nachthemd die nächtliche Straße entlang, ihren Gedanken hinterher und dem neuen Tag entgegen.

Auf einmal aber legt sich eine fahrige Helligkeit auf den Asphalt. Von hinten knattert leise etwas heran. Hilde dreht sich um. Ein rundes Licht in der Nacht. Ein Scheinwerfer. Ein Moped. Ein Schichtarbeiter, verdrossen auf dem Weg zur Frühschicht vielleicht, denkt sich Hilde, oder von der Spätschicht erschlagen auf dem Weg nach Hause. Hildes eigener Schatten torkelt vor ihr auf der Straße hin und her. Das Knattern wird lauter. Und lauter. Dann bleibt es konstant. Wieder dreht Hilde sich um. Ein paar Autolängen hinter ihr folgt das Moped im Schritttempo, torkelnd und schlingernd von einer Straßenseite zur anderen. Ein Mann sitzt da drauf, so viel kann Hilde schon sehen, mit der Hand wie ein kleines Vordach über den Augen. Ein Mann, nicht allzu groß, nicht dünn, nicht dick. Bergschuhe, schwarze Hose, kariertes Hemd, kein Helm, weißblonde Stoppeln auf dem Kopf, ein Lächeln, dem drei Zähne fehlen. Der Greiner ist das.

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