Die neunte Sonne by Federica de Cesco

Die neunte Sonne by Federica de Cesco

Autor:Federica de Cesco [Federica de Cesco]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783958900110
Herausgeber: Europa Verlag Berlin
veröffentlicht: 2015-09-14T16:00:00+00:00


24. KAPITEL

DER ZWEITE KREIS DER HÖLLE

Meine Erinnerungen entsprechen vielleicht nicht ganz der Wirklichkeit. Dies alles geschah vor allzu langer Zeit. Was ist, sind die Kriege, die sich ja alle ähneln und zugleich das stumpfsinnige Los einer Gattung sind, die nicht anders kann, als sich selbst wieder und immer wieder umzubringen. Fünfzig Jahre relativer Geistesklarheit, und es steht fest: Der nächste Krieg muss her, sonst werden die Menschen nervös. Sie warten geradezu darauf mit wollüstigem Erschauern. Das urtümliche Böse steckt in uns, wir werden es nicht los. Willkürlich geschürter Hass schleudert die Nationen empor, wie die Wellen des Ozeans die Fische emportragen, die mit toten Augen verwesen.

Es gibt eine perverse Unfähigkeit unseres Denk- und Gefühlslebens, eine Geistesstörung, die uns verwirrt, längst bevor wir zu den Waffen greifen. Wir alle sind Handlanger einer völlig irrwitzigen, nicht zu bannenden urzeitlichen Gewalt. Es ist unausweichlich, es ist ein eindeutiges Schicksal, dass wir nie damit aufhören werden.

Müssen wir uns umbringen, viele Jahrtausende hindurch, bis wir endlich lernen, in Frieden zu leben? Es geht offenbar nicht anders.

Ich stelle fest, dass ich zittere. Es ist sehr heiß in diesen letzten Oktobertagen in Tokio, die Luftfeuchtigkeit beträgt achtzig Prozent. Ich schwitze, meine Finger, die den Pinsel halten, sind klebrig. Das ist die Anstrengung, Alexander. Los, schreib weiter. Kehre zu deinen Erinnerungen zurück, höre den betäubenden Lärm und die Schreie eines vergangenen Krieges, deren Echo längst verstummt ist. Denke jetzt nicht an das Zukunftsbild der Menschen, das womöglich noch traumatischer wird. Dir soll es schnuppe sein, Alexander, freu dich doch, dass du es nicht mehr miterleben wirst. Und jetzt marsch! Zurück nach Tsingtau.

Martin hatte ich seit achtundvierzig Stunden nicht zu Gesicht bekommen. Ich wollte mir nicht eingestehen, wie sehr er mir fehlte. Martin, Tribbelhorn und ich, wir hatten zusammengehört. In Shanghai war Tribbelhorn mit mir im Bordell gewesen, Martin natürlich nicht. Martin hatte sich in eine Kirche verzogen, wo ein Jesuit auf der Orgel Bach spielte. Schön sei es gewesen, hatte er gesagt. Jedem das Seine. Und jetzt war Martin irgendwo, und ich war alleine. Wie kämpft man ohne den Freund? Man kämpft, um zu vergessen, dass der Freund kein Freund mehr sein will.

Und wieder eine Nacht. Pechschwarz, nur vom Flackern der Geschosse erhellt. Der Feind kam näher. Die Granaten pfiffen, schlugen ein, die Kugeln flogen so dicht, dass es reiner Zufall war, wenn keiner getroffen wurde. Allmählich hörte ich auf, an Martin zu denken. Jeder für sich und Gott für keinen. Bald würden uns die Japaner so dicht auf die Pelle rücken, dass wir sie anspucken konnten. Und dann brach der Tag an, und die Sonne stieg aus dem Höllenschlund, die Wellen glühten wie flüssiges Feuer, und über den Kriegsschiffen hing schwarzer Rauch. Wir kauerten in unseren Gräben wie stumpfes Vieh, das auf den Schlächter wartet. Und irgendwann in diesem jämmerlichen Zustand fühlte ich, dass jemand hinter mir stand. In Sekundenschnelle wirbelte ich herum, das Gewehr im Anschlag.

»Zum Teufel, Mann! Ich wünschte, Sie würden sich melden, ehe Sie heranschleichen! Wer sind Sie?«

Der ganz junge Soldat, dem die blanke Angst ins Gesicht geschrieben stand, wich zurück und salutierte ganz automatisch.



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