Die kleinen Tugenden by Natalia Ginzburg

Die kleinen Tugenden by Natalia Ginzburg

Autor:Natalia Ginzburg [Ginzburg, Natalia]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Klaus Wagenbach
veröffentlicht: 2016-07-18T22:00:00+00:00


SCHWEIGEN

Ich habe Pelléas et Mélisande gehört. Von Musik verstehe ich nichts. Es hat mich nur dazu angeregt, die Wörter der alten Opernlibretti (Sconto col sangue mio – l’amor che posi in te/Ich büße mit meinem Blute – für die Liebe zu dir), dick aufgetragene, blutige, schwerwiegende Wörter, mit den Wörtern von Pelléas et Mélisande (J’ai froid – ta chevelure/Mir ist kalt – dein Haar), flüchtigen, wassergleichen Wörtern, zu vergleichen. Aus dem Überdruß, aus dem Ekel vor dick aufgetragenen, blutigen Wörtern sind diese wassergleichen, vergänglichen Wörter entstanden.

Ich habe mich gefragt, ob das (Pelléas et Mélisande) nicht der Anfang des Schweigens war.

Denn unter den seltsamsten und schlimmsten Lastern unserer Zeit ist das Schweigen zu nennen. Diejenigen von uns, die heute versucht haben, Romane zu schreiben, kennen das Unbehagen, das unglückliche Gefühl, das einen überkommt, wenn es soweit ist, die Personen miteinander sprechen zu lassen. Seitenlang tauschen unsere Gestalten unbedeutende, aber von einer verheerenden Traurigkeit belastete Bemerkungen aus: »Ist dir kalt?« – »Nein, mir ist nicht kalt.« – »Willst du etwas Tee?« – »Nein, danke.« – »Bist du müde?« – »Ich weiß nicht. Ja, vielleicht bin ich etwas müde.« So sprechen unsere Personen. Sie sprechen so, um das Schweigen zu überbrücken. Sie sprechen so, weil sie nicht mehr wissen, wie sie sprechen sollen. Nach und nach kommen auch die wichtigeren Sachen heraus, die schrecklichen Geständnisse: »Hast du ihn getötet?« – »Ja, ich habe ihn getötet.« Dem Schweigen schmerzhaft abgerungen, kommen die wenigen unfruchtbaren Wörter unserer Epoche zum Vorschein, wie Signale von Schiffbrüchigen, weit weg zwischen Hügeln entzündete Feuer, klägliche, verzweifelte Rufe, die der Raum verschlingt.

Dann, wenn wir unsere Personen miteinander sprechen lassen wollen, dann ermessen wir das tiefe Schweigen, das sich allmählich in uns verdichtet hat. Wir haben als Kinder zu schweigen begonnen, bei Tisch, gegenüber unseren Eltern, die noch mit jenen alten, blutigen und schwerwiegenden Wörtern zu uns sprachen. Wir schwiegen. Wir schwiegen aus Protest und aus Empörung. Wir schwiegen, um unseren Eltern zu verstehen zu geben, daß ihre schwerwiegenden Wörter bei uns ausgedient hatten. Wir hielten andere in der Reserve. Wir schwiegen voller Vertrauen auf unsere neuen Wörter. Wir wollten unsere neuen Wörter später anbringen, bei Leuten, die sie verstehen würden. Unser Schweigen machte uns reich. Jetzt schämen wir uns dafür und sind verzweifelt und wissen um all sein Elend. Wir haben uns nie mehr davon befreit. Diese dick aufgetragenen, alten Wörter, die unsere Eltern benutzten, sind ungültige Münze, und keiner nimmt sie mehr an. Und die neuen Wörter, haben wir bemerkt, haben keinen Wert, man kann nichts dafür kaufen. Sie dienen nicht dazu, Beziehungen herzustellen, sind wäßrig, kalt, unfruchtbar. Wir können damit keine Bücher schreiben, keinen geliebten Menschen an uns binden, keinen Freund retten.

Zu den Lastern unserer Zeit, das ist bekannt, zählt das Schuldgefühl: Darüber wird viel gesprochen und geschrieben. Alle leiden wir darunter. Wir fühlen uns in eine Angelegenheit verwickelt, die von Tag zu Tag schmutziger wird. Es ist auch von dem Gefühl von Panik die Rede gewesen: Auch darunter leiden wir alle. Das Gefühl von Panik entsteht aus dem Schuldgefühl.



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