Die gestohlene Zeit by Schmidt Heike Eva

Die gestohlene Zeit by Schmidt Heike Eva

Autor:Schmidt, Heike Eva [Schmidt, Heike Eva]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-426-42097-3
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2013-08-07T04:00:00+00:00


***

Himmel, war Udo fett geworden!, war mein erster Gedanke, nachdem mein ehemaliger Schüler in einem weinroten Edel-Bademantel auf den Flur hinausgetreten war, in dem er wie ein überdimensionaler Weihnachtsmann wirkte. Erst auf den zweiten Blick sah ich die Spuren von Alter und offenbar auch einigen Gläsern zu viel, die sich in sein Gesicht eingegraben und es geschafft hatten, ihn gleichzeitig aufgedunsen und verbittert aussehen zu lassen. Seine Wangen hingen, dafür verschwanden seine Augen beinahe zwischen den Hängelidern, was ihm einen noch tückischeren Ausdruck als früher verlieh. Offenbar hatte er seinen Hals inzwischen völlig eingebüßt, denn sein massiger Schädel schien direkt aus seinen Schultern zu wachsen. Er glich eher einem Metzger, der sein eigener, bester Kunde war, und weniger einem erfolgreichen Anwalt.

Mein Erschrecken über Claudias Anblick war nicht minder stark gewesen. Sie war in der zwölften Klasse mit ihren langen blonden Haaren und der Stupsnase ziemlich hübsch gewesen, auch wenn ihr Mund zu schmal war und ihre Augen einen Hauch zu eng standen, um sie als »schön« zu bezeichnen. Heute jedoch sah sie aus wie eine Mischung aus Barbie und Michael Jackson – nach seinen Schönheits-OPs. Ihre Nase war irgendwie schmäler geworden, dafür hatten ihre Lippen an Volumen zugelegt und ähnelten einem kleinen Schlauchboot, das in Claudias Gesicht ankerte. Mit merkwürdig aufgerissenen Augen, die ihr einen künstlich-erstaunten Ausdruck verliehen, musterte sie die Szenerie. Der dicke Junge – unverkennbar Udos Sohn – schubste gerade seine Schwester, die jünger und um einiges dünner war. Überhaupt schien die Kleine die einzige halbwegs sympathische Person in dieser ganzen Familie zu sein. Nachdem ich das Haus gefunden hatte – zum Glück kannte ich die Stadt aus meiner Internatszeit noch wie meine Westentasche –, hatte Karla sofort auf mein klägliches Miauen hin die Tür geöffnet und mich ins Haus gelassen. Dabei hatte sie weder versucht, mich mit Gewalt ins Innere zu zerren, noch wollte sie mich unbedingt auf den Arm nehmen.

Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, in dessen Augen ein bösartiges Glitzern trat, als er mich jetzt ansah. Seinen hartnäckigen Versuchen, mir ein Miauen zu entlocken, indem er an meinem Ohr zog und anschließend versuchte, mich im Nacken zu packen, konnte ich erst nach einem energischen Biss in seine dicken Wurstfinger ein Ende bereiten. Die Konsequenz war ein hysterischer Schreianfall, was den inzwischen angekleideten Udo zu den freundlichen Abschiedsworten veranlasste: »Ich hab’s doch gesagt, das Drecksvieh soll verschwinden.«

Nichts lieber als das, dachte ich, aber zuerst wollte ich herausfinden, ob er Laurins Ring hier in seinem Haus versteckt hatte, und wenn ja, wo. Daher wartete ich, bis die schwere Haustür hinter Udo zugefallen war, um mich dann an Karlas Beine zu schmiegen, wobei ich versuchte, möglichst niedlich dreinzuschauen.

»Schau mal, Mama! Wie süß!«, quietschte Karla prompt. »Die Katze kann mich gut leiden!«

»Ja, mein Schatz, das mag ja sein, aber Papa mag die Katze nicht! Du hast doch gehört, was er gesagt hat – er will keine Tiere im Haus haben. Schon gar keinen Streuner«, sagte Claudia und warf mir einen Blick zu, den sie bei der Kursfahrt schon auf



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