Die fetten Jahre by Koonchung Chan

Die fetten Jahre by Koonchung Chan

Autor:Koonchung Chan [Chan, Koonchung]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fiction, General, Roman
Herausgeber: Eichborn
veröffentlicht: 2012-10-19T22:00:00+00:00


***

Hu Yan wusste inzwischen, dass das Wochenende zum Ausruhen gedacht war und nicht zum Arbeiten. Ihr Mann lag ihr ständig in den Ohren: Sie sei nicht mehr die Jüngste, ihre Tochter ginge ja schon zur Universität, sie solle die Dinge langsamer angehen.

Sie wusste auch, dass mehr Projekte offen waren, als sie jemals abarbeiten konnte. Es herrschte eine völlig andere Situation als früher, als man ihrer Forschung keine Beachtung geschenkt hatte, sie kaum an Gelder gekommen war und ihre Arbeit sie ein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Mittlerweile zählte sie zu den gefragtesten Wissenschaftlern im Land und die Erforschung der ländlichen Kultursoziologie zu den angesagtesten Disziplinen überhaupt.

Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie damals, Anfang der neunziger Jahre, für ihre Forschung über die Bildungsarmut junger Mädchen aus den Minderheitenstämmen der Provinz Guizhou auf Spendengelder aus Taiwan und Hongkong angewiesen gewesen war. Als sie sich gegen Ende des Jahrzehnts der Bildungsmisere bei Wanderarbeiterkindern gewidmet hatte, hatte ihr das in den akademischen Kreisen Pekings nichts als Geringschätzung eingebracht. Seitens der Regierung hatte man gar versucht, ihre Arbeit zu behindern und Druck auf sie auszuüben. Das neue Millennium hatte dann die große Wende gebracht: Im Zuge ihrer neuen Politik strukturierte die Zentralregierung mithilfe der kommunalen Verwaltungen das soziale Gefüge im ländlichen Raum um. Dabei war die Partei dringend auf kompetente Sachkundige angewiesen, und obwohl mit einem Mal eine ganze Reihe selbsternannter Experten für die Wanderarbeiterproblematik auf der Bildfläche erschienen, kamen die Kader auch auf Hu Yan zu. Ihr wurden immense Forschungsprojekte zugeteilt, wobei dem Aufbau der Infrastruktur in ländlichen Gebieten und der Reform des Pachtrechts oberste Priorität zukam. Hu Yan erhielt staatliche Mittel in einer Höhe, die ihre Akademikerkollegen vor Neid erblassen ließ.

Während ihrer Feldforschung auf dem Land war Hu Yan zufällig auf ein Phänomen aufmerksam geworden, das sie gleich interessierte: das rasante Wachstum der protestantischen Hauskirchen. In einer Erhebung aus dem Jahr 2008 hatte man die Anhängerzahl dieser »Untergrundkirchen« sowie der beiden staatlichen Kirchen – der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung und der Katholisch-Patriotischen Vereinigung – noch auf fünfzig Millionen Gläubige beziffert. Hu Yan war überzeugt, dass sich ihre Zahl inzwischen auf an die hundert Millionen verdoppelt haben musste, denn in den letzten zwei Jahren war die Zahl der Gläubigen sprunghaft angestiegen. Hu Yan hatte daher zusammen mit zwei befreundeten Kollegen einen ersten inoffiziellen Bericht verfasst, den sie nun in ihrem überwiegend aus Akademikern bestehenden Bekanntenkreis zirkulieren ließ, um ein paar Reaktionen dazu einzuholen. Sie war nicht sicher, ob das Thema so lohnenswert war, um andere Projekte dafür zurückzustellen. Außerdem war Religionssoziologie nicht ihr Fachgebiet. Wenn sie nun in diesem Bereich auch noch erfolgreich wäre und staatliche Unterstützung erhielte, würden ihre Neider sich den Mund über sie zerreißen – Profilierungssucht und wissenschaftliches Allmachtsstreben wären dann noch die harmloseren Vorwürfe.

Hu Yan hatte sich immer nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert und darauf geachtet, sich nicht dem Zorn und den Lästereien der akademischen Welt auszusetzen; deshalb wollte ein Schritt wie der zur Erforschung der chinesischen Untergrundkirchen genau überlegt sein. Doch der Verlockung war schwer zu



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