Die andere Seite by Kubin Alfred

Die andere Seite by Kubin Alfred

Autor:Kubin, Alfred [Kubin, Alfred]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-02-02T16:00:00+00:00


II. Die Klärung der Erkenntnis

Was ich vor allem lernte war, den Wert der Indolenz zu schätzen. Diese zu erobern, erfordert für einen lebhaften Menschen die Arbeit eines Lebens. Hat man ihre Süßigkeit einmal erfaßt, so hält man sie, wenn auch unter stetem Kampfe, für immer fest. Auch ich versuchte jetzt Steine, Blumen, Tiere und Menschen stundenlang gesammelt zu betrachten. Dabei wurde mein Auge geschärft, so wie es Geruch und Gehör schon waren. — Jetzt kamen große Tage — ich entdeckte eine neue Seite der Traumwelt. Die ausgebildeten Sinne beeinflußten allmählich den Gedankenapparat und formten ihn um. Einer überraschenden Art des Staunens wurde ich fähig. Herausgerissen aus dem Zusammenhang mit den anderen Dingen gewann jeder Gegenstand eine neue Bedeutung. Daß so ein Körper aus der Ewigkeit bis zu mir reicht, das machte mich aufschaudern. Das bloße Sein, so und nicht anders sein, ward mir zum Wunder. Eines Tages wurde es mir vor einer Muschel überklar, daß sie gar nicht so plump existiert, wie ich bisher meinte. So ging es bald mit allem, mit der ganzen Welt. Die stärksten Sensationen kamen anfangs vor dem Einschlafen oder unmittelbar nach dem Erwachen — also wenn der Körper müde war und das Leben in mir sich in einem Dämmerzustand befand. Eine nicht immer lebendige Welt mußte nach und nach geschaffen werden und zwar immer neu.

Immer mehr fühlte ich das gemeinsame Band in allem. Farben, Düfte, Töne und Geschmacksempfindungen waren für mich austauschbar. Und da wußte ich es: — Die Welt ist Einbildungskraft, Einbildung — Kraft. Überall, wohin ich ging und was ich trieb, war ich bemüht, meine Freuden und Leiden zu verstärken, und heimlich lachte ich über beides. Wußte ich es doch jetzt sicher, daß das Hin- und Herpendeln ein Gleichgewicht darstellt; gerade bei der weitesten und heftigsten Schwingung kann es sich am deutlichsten fühlbar machen.

Einmal sah ich die Welt als ein teppichhaftes Farbenwunder, die überraschendsten Gegensätze alle in einer Harmonie aufgehend; ein andermal überschaute ich ein unermeßliches Filigran der Formen. In der Finsternis umrauschte mich eine Orgelsymphonie von Tönen, worin sich pathetische und zarte Naturlaute zu verständlichen Akkorden ergänzten. Ja, ganz neuartige Empfindungen erfaßte ich nachtwandlerisch. Ich entsinne mich jenes Morgens, da ich mir wie das Zentrum eines elementaren Zahlensystems vorkam. Ich fühlte mich abstrakt, als schwankender Gleichgewichtspunkt von Kräften — ein Gedankengang, der mir niemals wieder gekommen ist. Jetzt verstand ich Patera, den Herrn, den ungeheuren Meister. Nun war ich mitten unter den großen Burlesken ein Hauptlacher, ohne zu verlernen, mit den Gequälten zu zittern. In mir war ein Tribunal, das alles beobachtete, und da wußte ich, daß im Grunde gar nichts geschah. Patera war überall, ich sah ihn im Auge des Freundes wie des Feindes, in Tieren, Pflanzen und Steinen. Seine Einbildungskraft pochte in allem, was da war. Der Herzschlag des Traumlandes. Dennoch fand ich noch Fremdes in meinem Innern. Da fand ich zu meinem Schrecken, daß mein Ich aus unzähligen »Ichs« zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem anderen auf der Lauer stand. Jedes folgende erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten.



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