Die Zauberlinie (German Edition) by Zeitmann Christian

Die Zauberlinie (German Edition) by Zeitmann Christian

Autor:Zeitmann, Christian [Zeitmann, Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Amazon Publishing
veröffentlicht: 2015-02-23T16:00:00+00:00


Schattenspiel

Spätsommer 1981, St. Peter-Ording, deutsche Nordseeküste

»Komm herein.«

Großvater hatte sich verändert. Seine Haltung, sein Teint waren anders. Und er trug einen Bademantel. Früher hätte er niemals im Bademantel die Haustür geöffnet. Im T-Shirt vielleicht, aber niemals in einem solch intimen Kleidungsstück wie einem Bademantel. Großvater hatte Prinzipien. Doch die Krankheit schien ihn daran zu hindern, sich weiterhin an diese Prinzipien zu halten.

Es war bereits nach neun Uhr abends. Großvater hatte angerufen, und seine Stimme hatte seltsam geklungen. Dringlich. Bei mir hatten sofort alle Alarmglocken geläutet, und ich hatte mich auf meinen Drahtesel geschwungen.

»Nun guck nicht wie ein Kaninchen aus dem Bau. Ich lebe noch und werde es wohl auch noch eine Weile tun.« Jahn grinste.

Ich trat ein und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke. »Du hast mich noch nie um diese Uhrzeit angerufen.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Ich merkte ihm an, dass er versuchte, etwas zu überspielen.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.

»Ach«, er winkte ab. »Immer das Gleiche. Die dämlichen Schmerzen. Jeden Tag diese Pillen. Und das Klo ist mein bester Freund geworden. Ich traue mich kaum mehr als zehn Schritte weit weg.« Er seufzte. »Ich glaube, die Tabletten machen meine Beine schwer, und es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich dort bin. Also heißt es: Kontakt halten.« Er zwinkerte mir zu.

»Du musst vor mir nicht den starken Mann spielen«, bemerkte ich.

»Ich bin, wer ich bin. Wenn ich so nicht mehr sein kann, dann weißt du, dass es zu Ende geht.« Großvater ging gemächlichen Schrittes in Richtung Wohnzimmer. »Komm mit.«

Es war längst dunkel geworden. Während der Hausflur durch die Straßenlaternen erleuchtet wurde, herrschte im Rest des Hauses ein mattes Halbdunkel. »Warum machst du kein Licht an?«, fragte ich verwundert.

Ich hörte, wie Großvater sich im dunklen Wohnzimmer räusperte. »Komm einfach her.«

Die Luft war abgestanden, und ich konnte im Halbdunkel mehrere Kleidungsstücke erkennen, die auf der Couch herumlagen. Großvater lebte bereits seit einiger Zeit allein, aber unordentlich war er noch nie gewesen. »Wann hast du das letzte Mal aufgeräumt?« Ich tastete mich langsam durch den Raum.

»Ach, jetzt lass doch dieses unwichtige Zeug. Du hörst dich ja schon an wie deine Großmutter.« Ich konnte Großvater auf seinem Stuhl vor dem Terrassenfenster erkennen. »Was tust du da?«

»Ich habe dir doch von meinen Nachbarn erzählt«, begann er zu erklären.

»Richtig, deine Spannerei.« Ich stellte mich neben ihn und blickte zum Fenster hinaus.

»Wenn du es so nennen willst.« Er deutete nach oben. »Dort, hinter dem großen Fenster. Gleich geht das Schauspiel los.« Großvater rieb sich die Hände.

Ich schrieb es den Medikamenten zu. Er hatte sich tatsächlich verändert. Doch war ihm dies zu verübeln? Ich beschloss, ihm seinen Spaß zu lassen.

Eines der Fenster des gegenüberliegenden Hauses − es war das Haus der Petrovskis − war hell erleuchtet. Weiße Gardinen waren vorgezogen. Mehr war nicht zu sehen.

»Aber …«

Großvater hob die Hand. »Warte, gleich geht’s los. Heute Abend passiert es.«

Ich schluckte die nächste Frage hinunter.

Es dauerte eine Weile, bis sich etwas tat. Ich kam mir schon albern vor, wie ein kleiner Junge im dunklen Wohnzimmer zu stehen und Versteck zu spielen.



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