Die Winterprinzessin by Kai Meyer

Die Winterprinzessin by Kai Meyer

Autor:Kai Meyer [Meyer, Kai]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
ISBN: 9783404150670
Herausgeber: Luebbe Verlagsgruppe
veröffentlicht: 2003-12-15T14:47:34.916000+00:00


* * *

Als ich am Morgen erwachte, stand Jade am Haupttor und blickte durch einen schmalen Spalt ins Freie. Nichts trug sie am Leib als ihre Schönheit. Sie hatte mir den Rücken zugewandt. Das Feuer war fast heruntergebrannt, und ich fror erbärmlich. Kein Wunder, war ich doch genauso nackt wie die Prinzessin. Ich versuchte, mich zu erinnern, was geschehen war; das war freilich nicht schwer, und ich gestehe, dass ich es keinen Augenblick bereute. Erst recht nicht, als meine Blicke ihren Körper streiften, die schmalen Hüften und die zartbraune Haut, das schwarze Seidenhaar, das sich um ihre Schulterblätter teilte.

Kala stöhnte leise. Ich sah, dass er sich regte, mit geschlossenen Augen, wie einer, den böse Träume plagen. Ich kroch zu ihm hinüber, schlug den Fellmantel zurück und betrachtete die beiden Stichwunden. Sie sahen noch genauso aus wie am Abend, nur das Blut war verkrustet. Was hatte ich auch erwartet? Dass sie durch Jades Magie verschwunden wären? Vielleicht. Aber Jade war keine Hexe, nicht wirklich.

Sie hatte bemerkt, dass ich erwacht war, und drehte sich um, stand jetzt genau vor dem hellen Türspalt. Draußen ließ die Sonne den Schnee erstrahlen, und so war Jade kaum mehr als ein filigraner Umriss vor glitzerndem Weiß.

»Guten Morgen«, sagte sie, und es klang keineswegs romantisch. »Ziehen Sie sich an, beeilen Sie sich.«

»Bin ich jetzt wieder ein Gefangener?« Ich war ein wenig verstimmt, dass sie nach einer Nacht wie dieser so barsch zu mir war. Außerdem tat mein Kopf weh.

»Sie sind ein freier Mann, Herr Grimm. Nach wie vor.«

Sie bestand also immer noch auf Förmlichkeit. Nun gut, das konnte sie haben.

»Ich hoffe, Euer Hochwohlgeboren haben eine geruhsame Nacht verbracht und angenehme Träume durchlebt.«

Sie kicherte. »Ich habe von Ihnen geträumt, Herr Grimm.« Dann wurde sie schlagartig ernst: »Wir werden gleich Gäste haben. Wenn Sie ihnen nicht in dieser kompromittierenden Staffage gegenübertreten wollen, sollten Sie sich ankleiden.« Damit kam sie näher und raffte ihre eigenen Kleidungsstücke zusammen.

»Gäste?«, fragte ich erstaunt. Ich sprang auf und griff eilig nach meinen Hosen.

»Wie es scheint, konnte Ihr Bruder das Wiedersehen mit Ihnen nicht länger erwarten.«

»Oder mit Ihnen, Prinzessin.«

Ihr Nicken versetzte mir einen Stich. »Oder mit mir, in der Tat.«

Ich knöpfte mir das Hemd zu und trat an die Tür. Der freie Schneestreifen vor der Ruine war menschenleer.

»Wie kommen Sie darauf, dass jemand hierher unterwegs ist?«

»Ich spüre die Erschütterungen unter meinen Sohlen«, entgegnete sie ernsthaft.

Ich starrte verblüfft auf meine eigenen Füße, die natürlich nicht das Geringste verspürten. »Tatsächlich?«

Sie lachte wieder. »Nur ein Scherz, Herr Grimm, verzeihen Sie. Sie halten mich wirklich für eine Zauberin, nicht wahr?«

Pikiert rümpfte ich die Nase. »Natürlich nicht.«

Sie trat auf mich zu und zog sich dabei das Hemd über. In der Kälte zeichneten sich ihre Brustwarzen zart unter dem Stoff ab. Es fiel schwer, den Blick davon abzuwenden. Wilhelm, Wilhelm, ich erkenne dich nicht wieder!

Jade hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Hören Sie genau hin«, flüsterte sie und deutete nach draußen.

Verwirrt riss ich mich von ihrem Anblick los und steckte den Kopf durch den Türspalt. Horchte angestrengt hinaus in den Wintermorgen.



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