Die Wiederholung der Philosophie by Hjördis Becker-Lindenthal
Autor:Hjördis Becker-Lindenthal
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2015-05-15T00:00:00+00:00
4.4.2 Existentielle Amnesie
Kierkegaards Kritik des 19. Jahrhunderts, das wurde schon mehrfach angedeutet, kreist um die Verfehlung der existentiellen Aufgabe â man habe vollkommen vergessen, was es heiÃt, zu existieren.736 Der Ausdruck ist mit Bedacht gewählt: Kierkegaard stellt seine Kulturkritik in ein semantisches Spannungsfeld von Sündenmetaphorik und Anamnesistheorie; beide werden wiederholt, d.h. neu gedacht vor dem Hintergrund einer aufsteigenden Kultur der Medien und des Wissens. Der Platonische Sokrates agiert bekanntlich vor dem Hintergrund der Annahme, die Seele habe vor ihrer Inkorporation die Ideen geschaut und dann vergessen. Das derart vorhandene Wissen könne jedoch wieder erinnert werden. Dazu ist Unterstützung nötig, eine Art Geburtshilfe, die sich in Sokratesâ Selbstbezeichnung als Hebamme spiegelt.737 Kierkegaard greift beides auf, die Anamnesistheorie wie die Maieutik. Er interpretiert sie neu und zeigt sich dabei skeptisch gegenüber der Gestalt des Sokrates, wie sie der späte Platon überliefert.
Kierkegaards Wiederholung der Anamnesistheorie enthält zudem einen Twist: Die Menschen seien alles andere als unwissend; vielmehr ist es gerade einem Zuviel an Wissen geschuldet, daà die Menschen vergessen haben, was Existieren bedeutet.738 Wie in Kapitel 2.4.3 beschrieben, akkumulieren Kierkegaard zufolge seine Zeitgenossen Wissen â mit der einzigen Absicht, es für das gesellschaftliche oder geschäftliche Vorankommen zu instrumentalisieren.739 Ein solches Wissen bleibt extern, es führt nicht zu einem Bildungsprozeà im Sinne Humboldts. Der Anstieg des Wissens, so läÃt Kierkegaard es Anti-Climacus auf den Punkt bringen, korrespondiert nicht mit zunehmender Selbstkenntnis.740 Dies ist das entscheidende distinktive Merkmal von Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Anamnesistheorie: Während Sokrates gemäà der Platonischen Vorstellung den Athener Bürgern hilft, sich von dem nur allzu menschlichen, kontingenten Wissen zu befreien und sich stattdessen an die ewige und allgemeine Wahrheit der Ideen zu erinnern, zielt Kierkegaards Kritik auf das abstrakte unmenschliche Wissen741 und rehabilitiert die Kontingenz der individuellen Existenz, an die es sich zu erinnern gilt. Seine Zeitgenossen spürten zwar ein Unbehagen, könnten aber nicht dessen Ursache erkennen, so Kierkegaard. Dem Chaos des 19. Jahrhunderts könne daher nur ein Sokrates abhelfen: âMan meint, die Welt bedürfe einer Republik, und man meint, einer neuen Gesellschaftsordnung zu bedürfen und einer neuen Religion: niemand aber denkt daran, daà es doch wohl ein Sokrates ist, dessen diese, gerade von vielem Wissen verwirrte Welt bedarf.â742
Die âWieder-Holungâ der Sokrates-Figur, die Kierkegaard hier vornimmt, basiert auf einer Unterscheidung zwischen einer platonischen Anamnesisdoktrin und der Sokratischen Anwendung einer solchen Theorie:
Im Sinne Platos hieÃe dies[,] das Dasein stärken mit dem erbaulichen Gedanken, daà der Mensch nicht mit leeren Händen in die Welt hinausgetrieben worden sei, d.h. damit, daà man sich vermöge der Erinnerung an seine reiche Mitgift besinnt; in sokratischem Sinne heiÃt es, die ganze Wirklichkeit verwerfen und den Menschen auf seine Erinnerung verweisen, welche sich fort und fort immer weiter zurückzieht gegen eine Vergangenheit hin, die ihrerseits sich so weit zurückzieht in der Zeit, wie der Ursprung jener adligen Familie, dessen niemand sich entsinnen konnte.743
Sokratesâ Umgang mit der Vorstellung der Anamnesis hat Kierkegaard zufolge eine postrestitutive Funktion. Sie ist ein Element der elenktischen Methode, keine Doktrin, sondern, so Kierkegaard, ein Mythos,744 dessen sich Sokrates zur Irritation und Beunruhigung seiner Gesprächspartner bediene.
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