Die Versuchung des Commissario Ricciardi - Kriminalroman by Insel Verlag

Autor:Insel Verlag [Verlag, Insel]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-09-01T16:00:00+00:00

XXVIII

Ricciardi erkannte, dass seine Befürchtungen eingetreten waren: Auf den Balkonen und an den Fenstern der umstehenden Häuser zeigten sich allmählich Frauen und Kinder, die das ungewöhnliche Treiben neugierig gemacht hatte.

Das Paradiso wurde, in Anbetracht seiner Geschäftstätigkeit, toleriert, weil es diskret war: Die Fenster waren verdunkelt, die Eingänge dezent, die Lieferanten nutzten den Seiteneingang, die Mädchen zeigten sich nur den Kunden und verließen das Haus sehr selten, immer allein und nur zu bestimmten Uhrzeiten. Musik wurde in einem innenliegenden Saal gespielt, draußen war sie nicht zu hören. Alle wussten, dass es das Bordell gab, aber niemand redete darüber oder nannte es beim Namen. Man lebte schließlich in einem anständigen Viertel.

Natürlich hatten alle von dem Mord gehört, auch wenn er in den Zeitungen, die seit Jahren angehalten waren, über solche Bluttaten zu schweigen, nicht erwähnt worden war. Doch die Nachrichten verbreiteten sich trotzdem, und das Paradiso stand unter ständiger Beobachtung der Klatschbasen in der Nachbarschaft, die nur darauf lauerten, irgendeinen Skandal aufzudecken.

Jetzt erlaubte man sich sogar schon eine Beerdigung. Es mochte zwar kein Priester dabei sein, was gerade noch gefehlt hätte, auch kein schwarzer Wagen, der von Pferden mit Federbüschen gezogen wurde, aber es war dennoch ein Trauerzug, wenn auch zu einer Stunde, zu der die Läden noch nicht geöffnet und keine Leute unterwegs waren.

In aller Eile jagten die Mütter ihre Kinder zurück in die Wohnungen, damit sie nicht zusehen konnten, und zogen demonstrativ die Fensterläden zu, um gleich darauf verstohlen hinter zur Seite gezogenen Gardinen hervorzuschauen. Ein paar Männer lehnten sich kopfschüttelnd zum Fenster hinaus, von einem Balkon hörte man sogar Gelächter.

Der Sarg wurde vorsichtig in den Wagen gehoben, die Männer traten zur Seite, und aus dem Tor kamen, immer paarweise in einer Reihe, wie bei einer Prozession von Nonnen, die das Kloster verlässt, Madame Yvonne und Viperas ehemalige Kolleginnen.

Die jungen Frauen waren durchweg dem Anlass entsprechend gekleidet: Man sah schwarze Kleider, Hüte mit Schleier oder um den Kopf gewickelte Tücher, die die Haare verdeckten. Keinerlei Farbe, kein dekolletiertes Kleid, kein Bein, das unter gewagten Schlitzen im Rock hervorschaute, keine Absatzschuhe, kein auffälliges Make-up. Wenn man von Bambinella, die außerdem halb versteckt im Schatten stand, und der spärlichen Anwesenheit von Männern absah, hätte man meinen können, es handele sich um eine ganz normale Beerdigung einer ehrbaren Person, die sich keine kostspielige Zeremonie leisten konnte.

Es war mucksmäuschenstill. Die schneidenden Blicke der Zuschauer verursachten eine greifbare Anspannung. Eines der Mädchen näherte sich dem dunklen Holzsarg und streichelte ihn zärtlich mit ihrem Handschuh. Nach ihr verabschiedeten sich alle nacheinander persönlich von der berühmtesten aller Prostituierten. Vielleicht dachte jede von ihnen, dass das Los der jungen Frau auch sie hätte treffen können, oder vielleicht war es auch nur die Trauer um ein so jäh beendetes Leben.

Ricciardi stellte fest, dass Ventrone, genau wie angekündigt, nicht zugegen war und dass es Pietro Coppola gelungen war, seinen Bruder fernzuhalten, wie er es versprochen hatte. Von Viperas Mutter keine Spur: Der Kommissar hatte gehofft, sie würde ihre Meinung vielleicht ändern.

Der Doktor ging zu dem Akkordeonspieler, der schon früh da war, um sich den offensichtlich einträglichen Platz zu sichern, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

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