Die Ungerächten by Volker Dützer
Autor:Volker Dützer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Gmeiner-Verlag
veröffentlicht: 2021-07-26T00:00:00+00:00
23
»Wie schaffst du es bei diesen Hungerrationen, so rund zu werden?« Leni schüttelte missbilligend den Kopf. »Mädchen, du wirst immer dicker.«
Hannah stellte einen Stapel schmutzige Teller auf der Spüle in der Küche des Klävbotz ab und füllte den Wasserkessel. Auf dem gerundeten Edelstahl schimmerte ihr verzerrtes Spiegelbild. Wieder einmal war sie totenbleich. Ihr war fast jeden Morgen übel und die Begleiterscheinungen der Schwangerschaft machten ihr von Tag zu Tag mehr zu schaffen. Die Arbeit in der Gastwirtschaft war zudem sehr anstrengend. Selbst im Vollbesitz ihrer Kräfte wäre sie jeden Abend erschöpft auf ihr Bett in der Dachkammer gefallen. Ihr Zustand machte alles noch viel beschwerlicher.
Die Anstellung als Küchenhilfe hatte Hannah zunächst nur als vorübergehende Notlösung angesehen. Bommi, der Wirt, hatte sich als Geizhals erwiesen, der meistens schlecht gelaunt war und an allem etwas auszusetzen hatte. Sie war sicher gewesen, dass sie Ruth schnell finden würde, alles Weitere würde sich schon ergeben. Inzwischen waren drei Monate vergangen, ohne dass sie eine Spur ihrer Freundin gefunden hatte. Auch Kalle wusste keinen Rat.
Hannah versuchte, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen, so gut es ging. Sie trug weite Kleider, Schürzen und Arbeitskittel, doch die Wölbung ihres Bauches lieà sich kaum länger verbergen. Zudem quälten sie heftige Gewissensbisse, weil sie keinen Arzt aufsuchte.
Leni reichte ihr die Liste mit den Einkäufen.
»Lauf mal rüber zum Wochenmarkt. Beeil dich, bevor das Wenige, was es gibt, ausverkauft ist.«
Hannah stützte die Hände in die Hüften und dehnte ihre verspannten Rückenmuskeln.
Leni blickte sie prüfend an.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, mach dir keine Sorgen.«
»Mädchen, ich könnte beinahe schwören, dass du in anderen Umständen bist.«
»Ach was.«
Hannah schnappte sich die beiden groÃen Flechtkörbe, steckte den Einkaufszettel ein und verlieà rasch die Küche. Leni war nicht auf den Kopf gefallen, sie würde ihr nicht mehr lange etwas vormachen können.
Nach einem warmen und sonnigen September brachte der Oktober Regen und ungewöhnliche Kälte. Hannah lief durch die Trümmerwüste der Altstadt und fragte sich, wie sie die Körbe voll beladen zum Klävbotz zurückschleppen sollte. Seit dem Morgengrauen hatte sie starke Rückenschmerzen, auÃerdem quälte sie ein trockener Husten. Die Dachkammer war ungeheizt. Der einzige Schutz gegen die Kälte, die durch die Pfannen und Sparren drang, waren kratzige Pferdedecken. Jeden Abend erhitzte sie auf der gusseisernen Platte des Küchenherds einen Ziegelstein, wickelte ihn in ein Tuch und wärmte ihr Bett damit.
In der Nähe des Doms legte sie eine kurze Pause ein. Trotz der morgendlichen Kälte brach ihr der Schweià aus. Was war nur los mit ihr?
Langsam ging sie an den Bretterzäunen entlang, die einsturzgefährdete Häuser von der StraÃe abtrennten. Zettel mit Suchmeldungen und Hilferufen flatterten im Wind. Nach Kriegsende war sie jeden Tag hierhergekommen und hatte voller Hoffnung auf eine Nachricht von Hans gewartet, ohne zu wissen, dass er bereits tot gewesen war. Aus der alten Gewohnheit heraus überflog sie die Flut der Botschaften.
Paul, melde dich bei Otto, WiesenstraÃe 13 ⦠oder: Wer hat Ilse Wernig gesehen? Eine ausführliche Beschreibung folgte. Hannahs Blick fiel auf eine ungelenke Handschrift, die ihr vertraut vorkam.
Hannah, wo bist du? Bin regeâ¦ig ⦠pl⦠Joschi.
Der Regen hatte einen Teil der Buchstaben verwischt.
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