Die Stunde des Venezianers by Cristen Marie
Autor:Cristen Marie
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2010-04-12T22:00:00+00:00
26. Kapitel
BRÃGGE, 24. SEPTEMBER 1369
In der Gasse zur Salvatorkirche herrschte mehr Gedränge als auf dem groÃen Markt. Mensch an Mensch schob sich vorwärts, bis schlieÃlich alle stehenblieben.
Ehe Aimée es sich versah, war sie mit Lison in der Menge eingeschlossen. Obwohl eine ehrbare Bürgerin mit niedergeschlagenen Augen durch die StraÃen zu gehen hatte, reckte sie sich auf die Zehenspitzen, um die Ursache dafür herauszufinden.
Der tägliche Kirchgang hatte ihr die Möglichkeit geboten, die Stadt, mit ihrem Labyrinth von Brücken und Kanälen, immer besser kennenzulernen. Sie hatte ihre Kirchgänge auch nicht mehr nur auf die Liebfrauenkirche beschränkt, sondern ihre Gebete auch in anderen Kirchen verrichtet. Sankt Salvator, ihr heutiges Ziel, war das älteste Gotteshaus Brügges. Ein Brand hatte kurz nach seiner endgültigen Fertigstellung den Innenraum zerstört, und bis zum heutigen Tag war das Gebäude eine Baustelle.
Ungeachtet dessen wurden Gottesdienste in ihr gehalten. Lag es an den Arbeiten, dass sie plötzlich nicht weiterkamen?
Ãber das Gemurmel der Menschenmenge erhob sich eine laute Männerstimme. Aimée entdeckte den Sprecher unweit der Kirche, hoch über den Köpfen der Zuschauer. Er stand auf einem groÃen Wagen.
Sie setzte die Ellbogen ein, um in die Nähe des Redners zu kommen. Warum schenkten die Brügger ihm so viel Aufmerksamkeit?
»Er hat Flandern an den König von Frankreich verschachert, Freunde!«, verstand sie die ersten Worte. »Habt ihr unsere Brüder vergessen, die im Kampf gegen die verdammten Leliarts in der Sporenschlacht ihr Leben gelassen haben? Ludwig von Male tritt den glorreichen Sieg von Kortijk mit FüÃen. Unter seiner Knute sind wir ärmer als je zuvor.«
Aimée begriff. Die Politik des Grafen von Flandern trieb einen Keil zwischen die Städter und die Landbevölkerung. Indem er die Menschen auf dem Land vor den Ãbergriffen der Städter schützte, machte er sich in den Städten Feinde.
»Er schürt unseren Untergang, Freunde! Unter seiner Obhut stellen die Bauern Webstühle auf. Sie färben und weben billiges Zeug, das dem Brügger Tuch Konkurrenz machen soll. Geht es nach ihm, werden wir künftig hungern, während er und seine Verbündeten auf Festmählern prassen und saufen!«
Beifall und Geschrei übertönten die Stimme des Mannes, dessen blaue Hände ihn als Färber auswiesen. Lison zerrte heftig an Aimées Arm.
»Lasst uns umkehren.«
»Solange du nicht den Grafen von Flandern verteidigst, musst du dich nicht fürchten«, behauptete Aimée ruhig, obwohl auch ihr der Aufruhr nicht ganz geheuer war. Dennoch wollte sie um keinen Preis gehen. Ihre Neugierde war stärker.
»Zerschlagt den Bauern die Webstühle!«
Die Menge griff den Ruf des Färbers auf. Männer reckten ihre geballten Fäuste. Frauen kreischten, die ersten Knüppel tauchten auf. Aimée versuchte Lison in einen rettenden Hauseingang zu ziehen, aber sie hatte zu lange gewartet. Der Sog der Menschenmasse riss sie unaufhaltsam vorwärts, auf die Kirche zu.
»Die Stadtwache! Lauft!«
Aus dem Aufruhr wurde schlagartig kopflose Flucht. Die Stadtwache und die Männer des Grafen von Flandern fackelten nicht lange, wenn es galt, Unruhestifter zum Schweigen zu bringen. Aimée und Lison hatten Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Ein unüberwindbares Hindernis, das mitten in der Gasse stand, hielt den fliehenden Mob auf. Ein Ziegelfuhrwerk, beladen mit gebrannten Backsteinen für die Kathedrale von Sankt Salvator, lieà zu beiden Seiten nur einen schmalen Durchgang.
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