Die Stadt und ihre ungewisse Mauer by Murakami Haruki

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer by Murakami Haruki

Autor:Murakami, Haruki [Murakami, Haruki]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: DuMont Buchverlag
veröffentlicht: 2024-01-12T00:00:00+00:00


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»Sein Tod traf uns völlig unerwartet«, sagte Frau Soeda. »Herr Koyasu wirkte immer so gesund und vital. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, klagte aber nie über irgendwelche körperlichen Beschwerden. Gut, er war ein wenig übergewichtig, aber er achtete auf seine Ernährung und ließ sich regelmäßig im Krankenhaus von Koriyama untersuchen. Außerdem machte er kleine Bergwanderungen in der Umgebung, um seine Beine zu trainieren. Deshalb konnte ich es kaum glauben, dass er mitten auf einer solchen Wanderung plötzlich einen Herzinfarkt erlitten hatte und gestorben war. Die Nachricht wurde allgemein mit großer Bestürzung aufgenommen. Auch für mich war es ein Schock. Das Ganze brach über mich herein, als wären die Säulen eines stabilen Gebäudes einfach eingestürzt.

Ich habe Herrn Koyasu als Menschen sehr gemocht und geschätzt. Manchmal machte ich mir Sorgen, weil er so allein lebte. Eigentlich ging mich das ja nichts an, aber ich fand, er hätte wieder eine Familie haben sollen. Er war ein Mensch, der ein sicheres und warmes Zuhause und ein schönes Leben im Kreise einer liebevollen Familie verdient hatte. Menschlich und sozial wäre er dazu in der Lage gewesen. Ich finde es sehr traurig, dass er sein Leben so allein beendet hat. Ich glaube, er hat sich letztlich bis zum Schluss nicht von dem Schlag erholt, den der Tod seines Sohnes und seiner Frau für ihn bedeutete.

Auch wenn er es nie gezeigt hat, hat er immer mit diesem Kummer in seinem Herzen gelebt. Gleichzeitig konnte ich mich einer gewissen Sorge nicht erwehren, was nach dem Tod von Herrn Koyasu aus der Bibliothek werden würde. Natürlich war der mögliche Verlust meines Arbeitsplatzes auch ein persönliches Problem für mich. Aber noch schlimmer wäre es, wenn diese wunderschöne kleine Bibliothek in den Händen ungeeigneter Personen eine unerwünschte Veränderung erfahren oder unter der Leitung eines lustlosen Menschen ihren lebendigen Geist verlieren und in Trostlosigkeit versinken würde. Der Gedanke daran war mir unerträglich. Den Verlust meiner Stelle hätte ich verkraftet, denn wir wären mit dem Gehalt meines Mannes über die Runden gekommen. Aber der Gedanke, dass diese wunderbare Bibliothek nicht mehr das sein könnte, was sie jetzt ist, schmerzte mich sehr.

Es war nicht lange nach Herrn Koyasus Totenfeier und der Beisetzung seiner sterblichen Überreste auf dem Tempelfriedhof in der Stadt. Eines Nachts, als ich wieder einmal allein über die Bibliothek nachdachte, erschien mir Herr Koyasu im Traum. Es war ein langer und sehr realistischer Traum. Als ich aufwachte, konnte ich kaum glauben, dass es ein Traum gewesen war. Vielleicht hatte ich ja in Wirklichkeit auch gar nicht geträumt. Aber damals konnte ich mir nichts anderes vorstellen.

Herr Koyasu war gekleidet wie immer. Er trug seine übliche dunkelblaue Baskenmütze und einen karierten Wickelrock, saß am Kopfende meines Bettes und sah mir aufmerksam ins Gesicht. So als hätte er schon eine Weile geduldig darauf gewartet, dass ich aufwachte.

Ich schreckte hoch, weil ich eine Präsenz spürte, und als ich bemerkte, dass Herr Koyasu direkt neben mir saß, wollte ich schnell aufstehen, aber er hielt mich mit beiden Händen leicht zurück. ›Bleiben Sie ruhig liegen‹, sagte er freundlich. Also blieb ich einfach liegen.



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