Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung by Alexandra Kollontai
Autor:Alexandra Kollontai
Die sprache: deu
Format: epub
8. Vorlesung: Die Bewegung der Feministinnen und die Bedeutung der Arbeiterinnen im Klassenkampf
Die „Frauenbewegung" war also das Resultat eines für den Kapitalismus typischen Widerspruches: der wachsende Anteil der Frauen in der Produktion entsprach keineswegs ihrer andauernden Diskriminierung in Gesellschaft, Ehe und Staat.
Es existiert keine spezielle selbständige „Frauenfrage". Jene Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Frau unterdrückt, ist ein Teil des großen gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Der Widerspruch zwischen der Beteiligung der Frau in der Produktion einerseits und ihrer allgemeinen Rechtlosigkeit andererseits führte zur Entstehung einer bis dorthin völlig unbekannten Erscheinung: dem Aufkommen einer Frauenbewegung. Aber von Anfang an spaltet sich diese Bewegung in zwei einander diametral entgegengesetzte Richtungen: die eine Fraktion organisiert sich unter der Fahne der bürgerlichen Frauenbewegung, während die andere Fraktion ein Teil der Arbeiterbewegung ist. Die bürgerliche Frauenbewegung wich im 19. Jahrhundert von der politischen Bewegung der bürgerlichen Männer ab und war nur noch teilweise das Spiegelbild der ihr nahestehenden gesellschaftlichen Schichten. Die Frauenbewegung wuchs sprunghaft und bildete Ende des 19. Jahrhunderts in sämtlichen westlichen und asiatischen Staaten ein starkes Netz von Frauenorganisationen. Ihre Hauptaufgabe war die Anerkennung der Gleichberechtigung von Frau und Mann auf allen Gebieten im Rahmen der bestehenden kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerlichen Wortführerinnen der Frauenbewegung hatten nicht das geringste Interesse für jene neue soziale Bewegung übrig, die der Befreiung der Frau eine wesentlich weitere Perspektive und das einzig solide Fundament gegeben hat. Sie standen dem Sozialismus völlig fremd gegenüber. Dass dann schließlich ein Teil der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Forderungen stellte, die man bei den Sozialisten entliehen hatte, lag nur daran, dass sie sich der Unterstützung der Proletarierinnen vergewissern wollten, ihre Mitarbeit erkaufen wollten, um so ihre eigene politische Bedeutung zu vergrößern. Es war auch kennzeichnend für die bürgerliche Frauenbewegung, dass sie sich selbst als klassenneutral begriff und dass ihre Forderungen und Aktivitäten diejenigen sämtlicher Frauen repräsentierten. Die Wirklichkeit sah natürlich so aus, dass die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen nichts anderes taten, als die Forderungen und Interessen der bürgerlichen Frauen zu vertreten, wobei wir gar nicht ausschließen wollen, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung aus den verschiedensten Schichten rekrutierte. Ein drittes Merkmal dieser Bewegung war es, dass es ihr gelang, einen ernsthaften Interessenkonflikt zwischen Mann und Frau auszulösen, indem sie in jeder Hinsicht versuchte, die Männer nachzuäffen. Die Feministinnen begingen außerdem noch einen großen Fehler. Sie nahmen keine Notiz von der doppelten gesellschaftlichen Verpflichtung der Frau und ließen völlig außer acht, dass jene „natürlichen Rechte", auf die die Feministinnen sich mit Vorliebe beriefen, von den Frauen nicht nur forderten, dass sie produktive Arbeit für die Gesellschaft ausübten, sondern auch, dass sie den zukünftigen Generationen dieser Gesellschaft das Leben schenkten. Die Verteidigung und der Schutz der Frau als Mutter war aber keineswegs Bestandteil des Programms und der Politik der bürgerlichen Frauenbewegung. Als die Bewegung der Feministinnen das Problem des besonderen Schutzes der Mutterschaft am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts berücksichtigte, da war dies ein neues Element in ihrer Arbeit. Höchst ungern und unter großen Zweifeln nahmen sie die
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