Die Schwester by Decker Kerstin
Autor:Decker, Kerstin [Decker, Kerstin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783827079060
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2016-11-02T16:00:00+00:00
Die Katastrophe
Als sie der Freundin gegenüber das Wort Passion gebraucht, ist ihr augenblicklich klar, dass sie hier etwas erklären muss: die meinige war keine erotische, guter Himmel natürlich nicht! sondern sie betraf Wissen und Erkenntniß 435
Steiner habe sich nur schwer zu diesen Lektionen entschließen können, denn er glaubte es würde Dr. Koegel kränken, aber er fühlte ebenso stark wie nöthig es für mich sei immer tiefer in meines Bruders Philosophie einzudringen u. sie im Zusammenhang mit allen andern Weltanschauungen kennen zu lernen. Schließlich arbeitet sie mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit am zweiten Band der Biografie und spürt genau, dass sie das Reich der Gedanken nicht weiträumig umgehen kann, sondern mitten hindurchmuss. Sie hört zweimal zwei Stunden in der Woche, wie ihr Bruder zur griechischen Philosophie, zu Kant, zu Schopenhauer stand und mehr. Diese Vorlesungen entzückten mich! … Dr. Steiner ist als Lehrer der Philosophie, als Philosoph EINFACH GROSSARTIG436.
Lieschen Nietzsche wird von etwas gestreift, von dessen Existenz sie bisher nicht wusste: vom Eros des Erkennens! Dass der Vortragende in dieser Hinsicht Talente besessen haben muss, ist klar, schließlich wird sein Charisma in nicht allzu langer Zeit für die Entstehung einer theosophischen Weltgemeinde verantwortlich zeichnen, die – von Nietzsche aus gesehen – direkt im Reich der philosophischen Unzurechnungsfähigkeit gelegen ist.
Elisabeth formuliert das Geständnis ihrer intellektuellen Impressionabilität am Abend eines langen Tages. Denn sie war soeben, am 6. Dezember 1896, Gastgeberin der Verlobung ihres Du-sollst-keinen-anderen-Herausgeber-haben-neben-mir-Herausgebers mit der Tochter ihrer Jenaer Freundin, und es war ein rundum gelungenes Fest, wenn sie auch durchaus Bedenken gegen die Braut hegt. Mangelt ihr nicht die nötige weibliche Zurückhaltung? Emily Gelzer, die designierte Emily Koegel, gestand ohne Umschweife, den Ratschlag Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht! im Zarathustra für widerwärtig zu halten. Als man sie darauf hinwies, dass nicht Zarathustra diesen Satz sagt, sondern ein »altes Weiblein«, antwortete die Braut ohne Zögern: »Umso schlimmer!«
Kann man das kürzer und treffender formulieren?
Indem das alte Weib dem Mann diesen Ratschlag gibt, wie mit ihrem Geschlecht am besten zu verfahren sei, offenbart sie eine Seite des Weiblichen, die der Autor für dessen Wesen schlechthin hält: Sklavennatur zu sein. Elisabeth ist sehr unangenehm berührt. Vielleicht nicht von der Meinung der jungen Frau, umso mehr aber durch ihre Direktheit, ihre Respektlosigkeit. Dieses Menschenkind neigt nicht zur Demut.
Dabei dürfte sich die Gastgeberin noch sehr gut an ihre eigene Reaktion erinnern, als ihr Rée seine 1875 erschienenen Psychologischen Beobachtungen übersandte, und die undankbare, respektlose Leserin quer durch das Kapitel Über Weiber, Liebe und Ehe einen langen entschlossenenen Strich der ultimativen Indiskutabilität machte. Der Unterschied ist nur: Sie war nicht Rées Frau. Wenn aber die Frau des Nietzsche-Herausgebers ein durchaus ironisches Verhältnis zu dem Philosophen pflegt, dem das Engagement ihres Mannes gilt, scheint ihr das schon ein wenig bedenklich. Zumal sie sich über die von Gelzers aufgegebene Verlobungsanzeige unglaublich geärgert hat. Hinter dem Namen des Bräutigams fand sich keinerlei Hinweis auf seine Tätigkeit. Seine Stellung am Nietzsche-Archiv finden sie ungefähr als ob er Scharfrichter wäre, vermutet sehr indigniert die oberste Archivarin.
Es ist eben eine sehr
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