Die Revolution missbraucht ihre Kinder by Christian Füller
Autor:Christian Füller [Füller, Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446249684
Herausgeber: Carl Hanser Verlag München 2015
veröffentlicht: 2015-03-24T16:00:00+00:00
Kinderläden als Brutstätten
für neue Menschen
Spuren von Reichs Theorie finden sich in vielen Kinderläden. »Die Zeiten der patriarchalischen Großfamilie sind vorbei, in denen liebe Omas und Tanten der überforderten ›Gehilfin‹ des Mannes ›selbstlos‹ zur Seite standen«, wird etwa 1969 in der Münchener Studenteninitiative gegen die Familie gewettert. »Übereinstimmend wird von Wissenschaftlern festgestellt, dass die heutige Situation in kleinfamilien (sic) und Kindergärten, sprich: Kinderverwahranstalten, einen großen Teil der Kinder neurotisiert.« Die Erziehung der Kinder sei folglich nicht Privatsache der Eltern, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe, heißt es in einem der ersten Papiere des auf dem Gelände der Universität München gegründeten Kinderladens.
Das Programm des Ladens mutet an wie eine Kopie der sexuellen Revolution nach Reich: »Wir gehen aus von der Erkenntnis der Psychoanalyse, dass die Ursache für die Entstehung des autoritären Charakters in der Unterdrückung der kindlichen Sexualität und aller damit zusammenhängender Bedürfnisse (zum Beispiel Bewegungsdrang) zu sehen ist. Daher: Größtmögliche Triebbefriedigung, repressionsfreie Anpassung an die Realität, aber keine kritiklose Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.«
In der Kinderladeninitiative der Universität Stuttgart dachten sie ähnlich. Das Konzept des gleichfalls 1969 gegründeten »Kindi« – so nannten die Eltern ihren Laden – sah zum Beispiel vor, Waschbecken und Klos nur durch eine Glasscheibe zu trennen. Den Kindern sollte keinerlei privater Raum geboten werden, auch nicht auf der Toilette. »Bei uns gibt es kein falsches Schamgefühl – wir scheißen im Kollektiv« – das sei das Motto gewesen, erinnerte sich später eine Frau an ihre Zeit in dem Kinderladen. Als sie als Kind einmal aufs Klo musste, geriet sie in eine Zwangslage: »Zu meinem Unglück – ich zog es vor, mein Geschäft ohne menschliche Gesellschaft zu verrichten – befanden sich dort zwei Knaben«. Was tat das Mädchen daraufhin? Sie machte sich einfach in die Hose. Das Jugendamt forderte später, die Toiletten mit Türen zu versehen, die jedes Kind hinter sich schließen konnte: »Die Intimsphäre der Kinder soll gewahrt werden.«
»Die Kinder sollten politisiert und mithilfe von repressionsfreier Erziehung und der Psychoanalyse fit für den Klassenkampf und die Erschaffung des ›neuen Menschen‹ gemacht werden«, fasst Karen Silvester das Erziehungsprogramm der Eltern zusammen. Silvester hat unter der Überschrift Die besseren Eltern über Kinderläden promoviert.
Die sexuelle Revolution funktionierte aber nicht nur in den Metropolen, sondern auch in kleinen Universitätsstädten wie Heidelberg. »Alles war Befreiung damals. Wir wollten die Dritte Welt befreien helfen, die Arbeiter, die Frauen, die Schwulen und die Kinder«, erzählt Andreas von Bernstorff, ein Zeitzeuge aus Heidelberg. Er begann sein Engagement in der antiautoritären Bewegung der 1970er Jahre, später arbeitete er als Journalist und bei den Grünen, auch als Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag. Andreas von Bernstorff, der heute eine Kommunikations- und Kampagnenagentur betreibt, war ein wichtiger Organisator der entstehenden Partei. »Man hat diese Befreiung als ein Paket angesehen. Ich habe es innerlich unterschrieben wie ein Parteiprogramm. Ich habe das an keiner Stelle hinterfragt, halt, doch: ›Waffen für El Salvador‹ fand ich nicht ok«, berichtet er heute. Er ist einer derjenigen, die von den Ideen der 68er-Bewegung getragen worden sind und diese dann zu den Grünen mitnahmen.
Das bedeutet nicht, dass Bernstorff alles mitgemacht hätte, was unter der Fahne der sexuellen Revolution verkündet worden war.
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