Die Reise nach Ascona by Lise Gast

Die Reise nach Ascona by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-02-26T00:00:00+00:00


* * *

Maumi zeichnete.

Sie führte jederzeit Block und Bleistift, Kohle, Gummi und auch einen kleinen Kasten mit Wasserfarben bei sich, jetzt natürlich erst recht, schließlich fuhr man ja nach Ascona. Und das mußte um diese Jahreszeit ein Paradies an Farben sein, wenn man Werbeprospekten und Reiseberichten glauben wollte.

Hier zwischen Gießen und Kassel war die Autobahn einsam und landschaftlich sehr schön. Großzügige Ausblicke öffneten sich nach rechts, Burgen lagen auf fernen Höhen. Maumi war auf einem Parkplatz rechts herausgefahren und saß auf der Schwelle ihres kleinen Wagens, wenn man so sagen wollte: im Auto vorn seitlich auf dem Boden, die Beine heraushängend, auf den Knien den Block. So zeichnete sie.

Nicht die Landschaft, die vor ihr lag. Landschaften zeichnete sie fast nie. Irgendein Haus oder ein Tor in der Landschaft, eine Hütte am See, holunderüberwachsen, das ja. Heute plagte sie sich mit einem Gesicht.

Es war Ulrichs Gesicht, das sie festzuhalten sich bemühte. Gesichter aus dem Gedächtnis zu zeichnen ist an sich schon schwer, aber dieses junge Mannesgesicht in Strichen festzuhalten, war für sie besonders schwierig. Vielleicht war es nur Einbildung und der innige Wunsch, es möge so sein. Vielleicht aber stimmte es auch bis zu einem gewissen Grade. Sie aber wollte jetzt Ulrich und nicht Matthias zeichnen.

Ein Blatt nach dem andern schlug sie um, ungeduldig, begann neu. Schließlich griff sie nach ihrer Brieftasche, in der sie Führerschein, Autopapiere, Paß, Geld und Fotos der Kinder aufbewahrte, und nahm ein Bild heraus, das Heinke ihr geschenkt hate. Es war eine Amateuraufnahme, ein Schnappschuß: Ulrich stand im Bademantel in der Sonne und lächelte. Dieses Lächeln war kein keep smiling ohne etwas dahinter und auch kein Fletschen der jugendlich tadellosen Zähne. Er lachte, wie sein Vater gelacht hatte, wenn er Kinder oder Tiere anschaute. Liebevoll und amüsiert und ein wenig, ein ganz klein wenig ernst. Maumi vertiefte sich in dieses Bild.

Nein, er war anders. Breiter die Stirn, ausgeschwungener das Kinn. Die Wangen flächiger. Sein Vater hatte mager ausgesehen, er besaß ein Gesicht, das sich im Laufe der Jahre kaum änderte: anfangs nicht sehr jung, später kaum gealtert. ›Holzgeschnitzt‹ nannte sie solche Gesichter. Er sähe wahrscheinlich auch jetzt nicht viel anders aus als damals.

Ulrichs Gesicht dagegen war jung. Das machte auch die reine, sehr helle Haut. Es war keineswegs schön, aber es war mehr als das, sehr angenehm, sehr liebenswert, ja, das vor allem. Oh, sie verstand Heinke, die in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet glaubte, in den Anblick seines Gesichts förmlich versank. Maumi lachte zärtlich.

Und dann klappte sie die nach hinten geschlagenen Blätter ihres Zeichenblocks wieder zurück und vertiefte sich in das erste, auf dem nichts zu sehen war als eine in Strichen angedeutete Hand. Eine Männerhand, breit, mit kurzgehaltenen Nägeln, einfach und stark. Wie die Natur spielt. Ulrichs Hände waren ganz und gar die seines Vaters, sie waren es so sehr, daß man hätte weinen und lachen können. Und so hatte sie ihn gebeten, sie zeichnen zu dürfen.

Lachend hatte er es gestattet. Und sie nahm dieses Bild seiner Hand mit wie einen sehr kostbaren Besitz – Matthias lebte eben doch noch.



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